Serbisches Disneyland auf bosnischem Boden
Zwei junge Frauen laufen über die Mehmed-Pasa-Sokolovic-Brücke in Visegrad. Sie verteilen Flugblätter für die rechtsextreme serbische Partei SNP 1389. Eine der beiden erklärt den Passanten: „Der bosnische Staat funktioniert nicht, deswegen müssen wir unabhängig werden und uns auf lange Sicht Serbien anschließen.“ Wir, das sind die Einwohner der Republika Srpska, jenes Teils von Bosnien-Herzegowina, in dem die Serben die Bevölkerungsmehrheit stellen. Die beiden Frauen erhalten viel Zustimmung für ihre Thesen.
Die im 16. Jahrhundert errichtete Mehmed-Pasa-Sokolovic-Brücke über den Fluss Drina gehört zum Unesco-Weltkulturerbe, doch nur fünf Minuten Fußweg entfernt gibt es eine neue Attraktion, die ihr als Besuchermagnet den Rang ablaufen könnte: Andricgrad, eine Art Disneyland für serbische Nationalisten. Der erste Teil wurde am 28. Juni dieses Jahres eröffnet – dem 100. Jubiläum des Attentats auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo und dem 625. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld von 1389, die in der serbischen Geschichtsmythologie eine herausragende Rolle einnimmt. Benannt ist die Stadt nach dem Literaturnobelpreisträger Ivo Andric, der mit dem Historienroman „Die Brücke über die Drina“ weltberühmt wurde.
Alle Straßen sind nach serbischen Berühmtheiten benannt
Andricgrad hat eine funktionierende Infrastruktur, ein Kino, ein Wasserkraftwerk, ein Literaturinstitut sowie mehrere Läden, Cafes und Restaurants. Die Straßen sind nach serbischen Schriftstellern, Königen und Wissenschaftlern benannt. Innerhalb weniger Minuten läuft man von spätmittelalterlichen Steinhäusern vorbei an der Statue des Namenspatrons Andric bis hin zur serbisch-orthodoxen Kirche Zar Lazar, die einem Kloster im kosovarischen Gracanica nachempfunden ist.
Bauherr von Andricgrad ist der weltbekannte Regisseur Emir Kusturica, ein gebürtiger Bosniake, der sich seit seiner serbisch-orthodoxen Taufe Nemanja Kusturica nennt, in vielen seiner Werke nationalistische Thesen vertritt. In Andricgrad, so kündigt er es seit Jahren an, will er den berühmtesten Roman seines „Idols“ Andric verfilmen.
„Was bitte ist daran nationalistisch?“, fragt Kusturica
Kusturica betont, seine Kitschstadt habe mit Nationalismus nichts zu tun: „Ich baue ein Kino, ein Theater und eine Bibliothek, was bitte ist daran nationalistisch?“ Gleichzeitig lässt sich der Regisseur über dem Kino in einem Mosaik mit Milorad Dodik abbilden, dem Präsidenten der Republika Srpska, der sich für eine Abspaltung vom gemeinsamen bosnischen Staat stark macht. Der serbische Teilstaat hat das Projekt Andricgrad maßgeblich mitfinanziert.
Vor dem Bosnienkrieg hatte Visegrad etwa 21.000 Einwohner, darunter etwa zwei Drittel Bosniaken und ein Drittel Serben. Heute leben nur noch etwa halb so viele Menschen in der Stadt, fast ausschließlich Serben. Als am 6. April 1992 Bosnien-Herzegowina seine Unabhängigkeit erklärte, eroberten die Truppen der Jugoslawischen Volksarmee Visegrad und übergaben es kurz darauf den serbischen Kräften. In der Folge wurden Tausende von Bosniaken aus der Stadt vertrieben, Hunderte ermordet. Ihre Leichen wurden in die Drina geworfen. Das Land, auf dem Andricgrad steht, gehörte einst Bosniaken und wurde enteignet.
An die Kriegsverbrechen erinnert in Andricgrad nichts
Von serbischen Helden hört man in Andricgrad sehr viel, von den Kriegsverbrechen der Republika Srpska jedoch nichts. Nirgendwo wird der Opfer gedacht, nicht einmal in Form eines Gedenksteins. Eine Rückkehr der Flüchtlinge in ihre alte Heimat wird durch die serbische Teilrepublik massiv erschwert.
Doch nicht nur serbische Helden finden sich in Andricgrad. Als große Pop-Art-Gemälde hängen nebeneinander an der Wand einer Bar Geronimo, Gandhi, Che Guevara, Fidel Castro und Wladimir Putin. Der Barkeeper erklärt: „Das sind alles Helden, die für die Freiheit ihrer Völker gekämpft haben und kämpfen. Wir Serben fühlen uns ihnen allen sehr verbunden.“ Kitschig findet er die neue „Altstadt“ nicht: „Dieser Ort repräsentiert die serbische Geschichte, um die wir als Minderheit in Bosnien kämpfen müssen. Der Tourismus ist gut für die Wirtschaft. Hier werden bevorzugt Leute angestellt, in deren Familien sonst niemand berufstätig ist.“
Die Arbeitslosenquote in Visegrad liegt bei über 40 Prozent, die Jungen ziehen weg und viele Einwohner hoffen, dass durch das Projekt wieder Leben in die Stadt kommt und die Wirtschaft angekurbelt wird. Dass hier viele Bosniaken ihr Leben verloren haben und die Vertriebenen nicht zurückkehren können, darüber wird im Ort nicht gesprochen.