Rumänien

Die Reste Siebenbürgens

Er ist ein hartnäckiger Gefährte, dieser Zweifel, der Dorothea Ziegler-Badea begleitet. Jeden Tag seit 25 Jahren. Am Morgen, wenn sie den großen Gemüsegarten hinter dem Hof jätet, am Nachmittag, wenn sie im verfallenden Pfarrhaus aufräumt, am Abend, wenn sie den Hund versorgt und den Kater streichelt. Was wohl passiert wäre, fragt sich die resolute Frau mit den kurzen Haaren immer wieder, wenn damals das Hirn über das Herz gesiegt hätte und nicht umgekehrt. Wenn sie nach der Revolution 1989 nicht auf das siebenbürgische Zuhause vertraut hätte, sondern gegangen wäre. Nach Deutschland. Wie so viele andere.


Als eine von wenigen ist Dorothea Ziegler-Badea in Siebenbürgen geblieben / Martin Gruber, n-ost


Geschätzt mehr als 225.000 Siebenbürger Sachsen haben ihre Heimat im rumänischen Karpatenbogen seit den 1970er Jahren verlassen. Rund die Hälfte von ihnen verkaufte das sozialistische Regime von Nicolae Ceausescu als Devisenbringer in die BRD, weitere 115.000 Menschen nutzten nach 1989 den Systemwechsel und die großzügige Unterstützung Deutschlands. Da die deutsche Minderheit im Land auch andere Gruppen umfasste, etwa die Banater Schwaben, gibt es keine offiziellen Zahlen, wie viele Sachsen einst in Rumänien gewohnt haben. Sicher jedoch ist: Nur mehr ein Bruchteil lebt in Siebenbürgen, weniger als 15.000 Menschen.


800 Jahre Geschichte endeten mit dem Fall des Kommunismus

Die Auswanderer haben ihre Häuser und ihre Kultur zurückgelassen. Die Bräuche und Traditionen verstauben nun sorgfältig in Kisten weggepackt. Eine Geschichte, die im 12. Jahrhundert mit dem Zuzug von deutschsprachigen Siedlern aus dem mittelrheinischen und moselfränkischen Raum begonnen hatte, hat nach wenigen Jahrzehnten Kommunismus ein Ende gefunden. Die Gemeinde Keisd (rumänisch Saschiz) zählt von den einst mehr als 1.200 noch 26 Sachsen. Vor allem die Alten haben den großen Schritt nach Deutschland nicht gewagt.

Die Zwillingssäulen des sächsischen Lebens aber sind in Keisd baulich erhalten geblieben, wenn auch in jämmerlichem Zustand. Der Turm der Wehrkirche steht mehr hängend denn thronend auf dem Hauptplatz neben dem Kirchenschiff. Ihm gegenüber ziert noch die Aufschrift „Evangelische deutsche Volksschule“ die Fassade eines ausgedienten Jahrhundertwendebaus. Die Wehrburg hatte im Mittelalter und danach als Schutz gegen die Tartaren und Osmanen an diesem Außenposten Europas gedient, die Schule den kulturellen Zusammenhalt mit Hilfe der deutschen Sprache und vor allem mit Hilfe des siebenbürgischen Dialekts vermittelt.


Entlang der Landstraße reihen sich die Häuschen der Sachsen auf / Martin Gruber, n-ost

Heute bewacht der von Mauerrissen durchzogene Turm nur mehr die bunten Häuser der Sachsen. Doch viele stehen leer, die Farben sind verblasst, Ziegel fehlen. Und in dem verfallenden Schulgebäude wird seit Jahren nicht gelernt. Sächsische Kinder gibt es keine mehr. Nur noch der Durchreiseverkehr donnert hier auf der Landstraße in Richtung der 100 Kilometer entfernten Kreisstadt Kronstadt (Brasov) vorbei.

„Die Straße wird uns den Turm noch endgültig zerstören“, sagt Dorothea Ziegler-Badea verärgert. Sie verwaltet den Besitz der evangelischen Kirchengemeinde in Keisd: Turm, Kirche, zwei Veranstaltungssäle, den verwilderten Garten, der das Pfarrhaus einsäumt, und ein bisschen Ackerland. Dafür bezahlt sie die evangelische Kirche. Das Engagement, den Geist des sächsischen Lebens in den Räumen zu behalten, legt sie unentgeltlich dazu.


Die Hoffnungen in den demokratischen Aufbruch wurden enttäuscht

Dorothea Ziegler-Badea hat dem Auszug der Sachsen nach 1989 mit Sorge zugeschaut. Sich anzuschließen kam für sie nicht in Frage. Derart große Hoffnungen habe sie in den demokratischen Aufbruch Rumäniens gesetzt, erzählt die 51-Jährige. Sie, die in den 1980er Jahren noch einen Ausreiseantrag in die Bundesrepublik gestellt hatte und danach nicht mehr als Lehrerin arbeiten durfte, wollte Siebenbürgen nicht den Rücken kehren, nachdem der Diktator nach 1989 dem Land endlich nicht mehr im Weg stand.

Ihre Eltern und die Schwester haben sich anders entschieden und sind ausgewandert. Mehrfach hat die Schwester auf Dorothea Ziegler-Badea eingeredet, nachzukommen. Ohne Erfolg. „Ich hatte doch mein Häuschen hier und ein Stück Land. Ich habe mich dieser Gegend immer verbunden gefühlt“, sagt die Frau.


Wie die meisten Menschen in der Gegend leben auch diese Bewohner als Selbstversorger von ihrem kleinen Hof / Martin Gruber, n-ost

Frisch verliebt setzt sie damals ihre Hoffnungen auf Rumänien. „Wir dachten, dass in Rumänien ein Leben wie im Westen bald möglich sein würde. Das Land hätte die Voraussetzungen gehabt. Rohstoffe, Menschen, alles!“ Sie klopft mit der Faust auf den Tisch. Aber am Entscheidendsten, dem Verstand, habe es gefehlt. Das zeige sich heute überall. Die Politiker korrupt, die Gemeinschaft abgeschafft. Und die Freiheit? „Welche Freiheit, wenn ich es mir nur leisten kann, bis hinter den Hühnerstall zu reisen?“ In Rumänien habe sich in den vergangenen 25 Jahren nichts geändert. Und schon gar nicht zum Guten.


Wer blieb, musste über Nacht ohne Gemeinschaft zurechtkommen

In Scharen laufen der Gemeinde nach 1989 die Sachsen davon, wie überall in Siebenbürgen. Die meisten packen ihre Koffer gleich nach der Wende. Bis zum Herbst 1990, so schätzen sie in Keisd, verlassen rund 80 Prozent der sächsischen Gemeinde Haus und Hof. Wer bleibt, muss über Nacht ohne die Gemeinschaft zurechtkommen, die den Alltag regelte, Sicherheit für die Schwachen garantierte und soziale Kontrolle über die Anderen ausübte. Die Verbundenheit der Sachsen, vom evangelischen Arbeitsethos geprägt, geht irgendwo auf dem Weg verloren. Sogar der Geistliche siedelt Anfang der 1990er Jahre aus. Ein Zusammenleben mit den Rumänen und Roma, die zuziehen, stellt sich nicht ein.

Dass der Pastor nicht mehr im Pfarrhaus in der Mitte des Dorfes wohnt und nur noch zu den Gottesdiensten aus der Stadt anreist, ist Rudi Ziegler, Dorothea Ziegler-Badeas Sohn, gewöhnt. Dem 28-Jährigen, der als Ingenieur bei einem deutschen Unternehmen in der nahen Stadt Schässburg (Sighisoara) arbeitet, fällt es leichter als seiner Mutter, die neuen Realitäten in Keisd zu akzeptieren. Er kennt es seit Kindestagen nicht anders. Denkt er an die Möglichkeit auszuwandern? „Ich hoffe, dass es in Siebenbürgen besser wird“, meint er vorsichtig. Noch wolle er das Leben hier versuchen, inmitten der Hügellandschaft, am Rande eines kleinen Wäldchens, im Rhythmus von Natur und Tier. „Durch die deutschen Firmen habe ich hier eine Perspektive“, erklärt der Mann mit dem jungenhaften Gesicht.


„Geld ist nicht das Wichtigste“, meint Rudi Ziegler / Martin Gruber, n-ost


Ohne die ausländischen Investoren aber sähe die Lage ganz anders aus: Die rumänische Industrie hat die Wendezeit nicht überlebt, in der Gegend leben die meisten Menschen als Selbstversorger von den kleinen Höfen. „Vielleicht ist Geld nicht das Wichtigste“, sagt Rudi dann leise. Er, der seine Verwandten in Deutschland jeden Sommer besucht und zeitweise in Stuttgart studiert hat, mag sich ein Leben in einer deutschen Mietwohnung und mit einem Pendlerauto noch nicht vorstellen. Und die große weite Welt komme ja mit dem Internet bis nach Keisd.


Die Kinder lernen den Siebenbürger Dialekt nicht mehr

Wenige Schritte weiter wartet in der Kirche Katharina Ziegler auf die Handvoll Besucher. Auch sie hat sich für Keisd entschieden, als nicht nur das sozialistische System, sondern auch die Keisder Welt zusammenbrach – wenn auch nicht ganz freiwillig. Ihre Eltern wollten bleiben, so tat die schmale Frau es auch. „Am meisten fehlen die Freunde“, sagt die 48-Jährige. Manchmal kommt Dorothea, mit der sie der Nachname, aber keine Verwandtschaft verbindet, zu ihr. Dann trinken die Frauen Tee und erzählen sich von früher, zeichnen gemeinsam Bilder einer verlorenen Zeit. Dorothea sei die letzte Vertraute, auf der sie sich auf Sächsisch unterhalten könne, sagt Katharina. Die Kinder lernen den Dialekt nicht mehr.


Katharina Ziegler trauert der alten verschwundenen Welt nach / Martin Gruber, n-ost


Wenn die Tassen ausgetrunken sind, geht Dorothea Ziegler-Badea zu Fuß nach Hause. Auf der menschenleeren Straße, an der verfallenen deutschen Schule vorbei. Sie schließt das Haustor hinter sich und streichelt die Katze. In diesen Momenten denkt sie, dass es für sie in Deutschland wohl besser gekommen wäre. Doch nun sei es zu spät.


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