Trauma Sowjet-Einmarsch
Für Barbara Rosiek sind die Erinnerungen an den 17. September 1939 immer noch gegenwärtig. Als an diesem Tag die Sowjetarmee im Osten Polens einmarschierte, war sie 18 Jahre alt. Sie lebte in Lwiw (Lemberg), das inzwischen zur Ukraine gehört. Lemberg war damals ein Schmelztiegel verschiedener Nationen: Polen, Ukrainern, Juden und Armenier lebten friedlich nebeneinander. „Es gab keinen Hass“, erinnert sich Rosiek.
Wenn die 93-Jährige erzählt, kommen ihr nach und nach wieder die Erinnerungen. Sie nennt Namen von Professoren, Ärzten und Soldaten. Und berichtet vom Tod. „Mein Onkel war Berufungsrichter, er wurde sofort von den Sowjets liquidiert. Eine Offiziersfamilie aus unserem Wohnhaus ebenfalls “, sagt sie, ohne Wut, eher fassungslos.
Eine „Befreiiungskampagne“
Als Stalins Sowjetarmee am 17. September 1939 in Polen einfällt, bezeichnet die sowjetische Propaganda dies als „Befreiungskampagne der Roten Armee“. Die gewaltsame Aufteilung Polens war mit dem Hitler-Regime im August 1939 vereinbart worden, in einem geheimen Zusatzprotokoll des Nichtangriffspakts zwischen beiden Ländern.
Der deutsch-russische Überfall ist für Polen bis heute ein Trauma. 250.000 polnische Soldaten und etwa 18.000 Offiziere kommen 1939 in sowjetische Gefangenschaft. In den folgenden Jahren werden mehrere Hunderttausend Polen in Arbeitslager verschleppt. In den Sowjetrepubliken Russland, Belarus und der Ukraine ermordet der sowjetische Innengeheimdienst 1940 fast 25.000 polnische Offiziere und große Teile der polnischen Elite. Der Ort Katyn ist zum Synonym für dieses Verbrechen geworden.
Während sich das Verhältnis zu Deutschland in den vergangenen Jahren rapide verbessert hat, begegnen die meisten Polen den Russen immer noch mit Misstrauen. Regelmäßig kommen deutsche Politiker nach Polen zu Gedenkfeiern, zuletzt hielt Bundespräsident Joachim Gauck auf der Westerplatte eine Rede. Dass Russlands Präsident Vladimir Putin nach Polen zu Gedenkfeiern kommt, ist dagegen momentan undenkbar. Umfragen zufolge verbanden schon 2013, also vor der Ukraine-Krise, die meisten Befragten Russland in erster Linie mit dem Massaker von Katyn, Krieg und autoritärem Staat.
Historiker warnen vor simplen Analogien
In der Ukraine-Krise wächst wieder die Angst vor einer russischen Aggression. In einer aktuellen Umfrage äußern gut drei Viertel der Polen, die Situation in der Ukraine gefährde die Sicherheit ihres Landes. Rufe nach stärkeren Investitionen in die Verteidigung werden lauter, in der vergangenen Woche beschloss die Nato die Stationierung einer Gefechtsspitze im Land. Politiker und Publizisten ziehen regelmäßig Vergleiche zwischen damals und heute.
Zugleich warnen viele Historiker vor allzu simplen historischen Analogien. „Heute ist die Situation anders – wir haben es mit Russland zu tun, nicht mit der Sowjetunion“, sagt etwa Krzysztof Ruchniewicz, Historiker und Leiter des Willy-Brandt-Zentrums der Universität in Wroclaw (Breslau). Die polnischen Machthaber hätten nach 1945 alles dran gesetzt, die Erinnerungskultur zu manipulieren. „Über die Besatzung, das Massaker von Katyn und die Deportationen wird erst seit 1989 offen geredet“, sagt Ruchniewicz. Wohl auch daher kommt in den letzten zweieinhalb Dekaden die zuvor unterdrückte Russenfeindlichkeit so heftig an die Oberfläche.
Skepsis gegenüber der Ukraine
Doch die Ansichten sind nicht überall im Land gleich. „Im östlichen Grenzgebiet nehmen die Polen sehr wohl auch die faschistoiden Parteien in der Ukraine wahr“, sagt Bartlomiej Marczyk. Der Historiker aus dem an die Ukraine grenzenden Przemysl berichtet, dass auch die polnische Minderheit in der Ukraine die Entwicklungen mit Sorge beobachtet. Denn nicht nur die polnisch-russische, sondern auch die polnisch-ukrainische Geschichte ist belastet: Die Ukrainer halten den Polen jahrhundertelange Unterdrückung und Diskriminierung vor, die Polen den Ukrainern vor allem das Massaker von Wolhynien während des Zweiten Weltkriegs, bei dem die OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten) bis zu 60.000 Polen systematisch ermordet hatte.
„Wir müssen versuchen, die schwierige historische Wahrheit zu vermitteln“, sagt Marczyk, an dessen Hochschule auch rund 100 Ukrainer lernen. „Wann, wenn nicht jetzt werden wir die Chance dazu haben? Die Ukrainer sehen heute endgültig, dass wir auf ihrer Seite sind.“
Auch Barbara Rosiek ist heute pro-ukrainisch und Putin-kritisch. Wie viele Polen landete sie nach der Zwangsaussiedlung aus Lemberg nach dem Zweiten Weltkrieg im ehemals deutschen Gliwice (Gleiwitz). „Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor“, zitiert sie ein Sprichwort der alten Römer.