Polen

Polen fühlt sich von Deutschland alleingelassen

In polnischen Zeitungen kursieren derzeit alarmierende Schlagzeilen. „Auf Deutschland können wir nicht mehr zählen“, schreibt der Politik-Professor Roman Kuzniar kürzlich in einem Zeitungsbeitrag. Kuzniar ist kein fanatischer Gegner Deutschlands, sondern der außenpolitische Berater von Polens Präsident Bronislaw Komorowski. Deutschland lasse seine Politik von Russlands Diplomatie und Drohungen des russischen Gasriesen Gazprom bestimmen, so Kuzniar. Polens Nachbarland und der Westen als solcher hätten die Lehren der Geschichte nicht verstanden.

Ausgerechnet zum 75. Jahrestag des Zweiten Weltkriegs mischt sich Misstrauen in die sonst so guten deutsch-polnischen Beziehungen. Heute hält der polnische Präsident Bronislaw Komorowski eine Rede bei der Gedenkfeier im Bundestag, bei der es mit großer Wahrscheinlichkeit auch um die Ukraine-Krise gehen wird. Die in Deutschland wegen ihrer Härte gegenüber Russland umstrittenen Worte von Komorowskis Amtskollege Joachim Gauck in Danzig vor einer Woche haben die Polen überaus positiv aufgenommen. Gauck hatte davor gewarnt, dass „territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern“.


Sikorski: „Weniger als das Minimum getan“

Doch die aktuelle Politik Deutschlands gegenüber Russland wird von vielen argwöhnisch beäugt. „Die EU weiß nicht, wie weit Putin gehen wird, Putin aber weiß nur zu gut, wie weit Europa nicht gehen wird.“ Diese Worte des bulgarischen Politologen Ivan Krastew werden in Polen rauf und runter zitiert – auch von moderaten Kräften.

Und die Kritik ebbt nicht ab, auch wenn die EU am Montag schärfere Sanktionen gegen Russland beschlossen hat. „Der Westen ist stets ein paar Monate hinter den Ereignissen“, kommentierte Außenminister Radoslaw Sikorski die jüngsten Beschlüsse. Auf jeder Etappe dieser Krise habe Europa „weniger als das Minimum getan, um den Respekt Putins zurückzugewinnen und seine Absicht zu beeinflussen”, sagte der Außenminister in einem Fernsehinterview am Montagabend.

Sikorski hatte im Namen der polnischen Regierung monatelang dafür geworben, in Polen dauerhaft zwei schwere NATO-Brigaden mit bis zu 10.000 Soldaten zu stationieren, Präsident Komorowski unterstützte diese Forderung. Doch vor allem wegen der Bedenken Angela Merkels hat die NATO auf dem Gipfel in Wales lediglich beschlossen, eine rotierende Speerspitze im nordwestlichen Stettin, den drei baltischen Staaten und Rumänien zu stationieren, mit jeweils einigen hundert Soldaten und leichtem Gerät.


Dauerhafte NATO-Präsenz in Polen

Dabei wäre die dauerhafte Präsenz von NATO-Truppen in Polen und den baltischen Staaten ein Ausdruck „tatsächlicher Solidarität“ gewesen, sagt etwa Krzysztof Ruchniewicz, Historiker und Leiter des Willy-Brandt-Zentrums der Universität in Wroclaw (Breslau). „Es hat den Anschein, dass der Pazifismus, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland dominierend wurde, in der Auseinandersetzung mit dem heutigen Russland überholt ist“, sagt der Experte für deutsch-polnische Geschichte. Und die liberale, einflussreiche Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ fragt in Richtung Berlin unverblümt, ob die Ukrainer es nicht ebenso wie die Kurden im Irak verdient hätten, Waffen vom Westen zu erhalten.

Inzwischen denken laut einer aktuellen Umfrage gut drei Viertel der Polen, die Situation in der Ukraine gefährde die Sicherheit ihres Landes. Der Wert ist in nur zwei Monaten um fast 30 Prozentpunkte gestiegen. Für viele ist Russland ein unberechenbarer Aggressor, wie es vor 75 Jahren auch die Sowjetunion war, die damals kurz nach der deutschen Wehrmacht in Polen einfiel. „Wenn wir heute auf die Tragödie der Ukrainer blicken, auf den Krieg im Osten unseres Kontinents, dann wissen wir, dass der September 1939 sich nicht wiederholen darf“, sagte Premier Donald Tusk am 1. September.

Viele seiner Landsleute hoffen, dass Tusk als künftiger EU-Ratspräsident die osteuropäische Perspektive stärker einbringen könnte. Nüchterne Kommentatoren verweisen aber darauf, dass Tusks Einflussmöglichkeiten begrenzt sein werden und er ohnehin ein Pragmatiker sei. Und ein enger Vertrauter Angela Merkels.


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