Polen

Tusk und das polnische Erdbeben

Ist die CDU ohne Angela Merkel denkbar? Eine sehr ähnliche Frage stellen sich viele Polinnen und Polen zurzeit – wenn auch Partei und Person anders heißen. Denn Premierminister Donald Tusk war bislang die unumstrittene Verkörperung der regierenden liberalkonservativen Bürgerplattform (PO) und der gesellschaftlichen Mitte schlechthin, mit ihrem polnisch-konservativen Anstrich. Nun wurde er am vergangenen Samstag zum neuen EU-Ratspräsidenten bestimmt.

Dabei ist der 57-Jährige nicht nur Mitgründer und seit elf Jahren Vorsitzender der 2002 etablierten Bürgerplattform. Sondern er hat in dieser Zeit auch etliche, ihm ebenbürtige Politiker seiner Partei kaltgestellt. Und er hat – ähnlich wie die deutsche Kanzlerin – einen politischen Führungsstil entwickelt, der vor allem im wohl kalkulierten Lavieren zwischen Links und Rechts besteht. Damit regiert Tusk seit nunmehr sieben Jahren das Land, so lange, wie kein anderer Politiker seit 1989.


Von Tusks Weggang wollen viele profitieren

Die Lücke, die Tusks Beförderung nach Brüssel nun in der politischen Mitte reißt, stellt nicht nur seine Partei vor eine Bewährungsprobe. Durch seinen Weggang dürfte sich die politische Landschaft in Polen als solche verändern. Von seiner Entscheidung könnten mittelfristig die nationalkonservative Recht und Gerechtigkeit (PiS) und womöglich auch die bei den EU-Parlamentswahlen erstarkte, rechtspopulistische Partei Kongress Neue Rechte (KNP) profitieren. Umfragen sehen die PiS vor den richtungsweisenden, landesweiten Kommunalwahlen im November dieses Jahres deutlich vor der PO.

So reibt sich die Opposition rechts der PO ob Tusks Abgangs die Hände, denkt dabei aber keineswegs an vorgezogene Neuwahlen. Denn der prestigeträchtige Posten in Brüssel dürfte der PO vor den anstehenden Kommunalwahlen erst einmal Auftrieb geben, vermutet PiS-Sprecher Adam Hofman. In der längerfristigen Perspektive glaubt er aber an einen internen Machtkampf in der Regierungspartei – und an den Alleinsieg der PiS bei den Sejmwahlen 2015.


Die politische Szene in Polen könnte einen positiven Schock erleben

Doch die politischen Verschiebungen nach Tusks Weggang dürften womöglich viel mehr bedeuten als nur einen Regierungswechsel im Herbst 2015. Einige Kommentatoren schließen langfristig gar den Zerfall der Bürgerplattform nicht aus. „Es ist Tusks Popularität gewesen, die stets wahlentscheidend war“, konstatiert Michal Syska, Direktor des Lassalle-Zentrums für gesellschaftliche Fragen in Breslau.

Viele Beobachter sehen in Tusks Abgang daher die Chance, dass die politische Szene in Polen einen durchaus positiven Schock erleben könnte. „Wenn Tusk als wichtiges Fundament der bipolaren Konfrontation mit Kaczynski nicht mehr da ist, könnten viele verwaiste Wähler zurückbleiben“, sagt der Politologe Michal Sutowski vom Institut für Höhere Studien in Warschau. Dies sei eine Chance für Bewegungen von unten, womöglich gar für die polnischen Grünen.

Donald Tusk selbst dürfte versucht sein, seinen Einfluss auf die polnische Politik wie auch auf seine Partei zu wahren. Denn dass der zweifache Vater die EU-Ratspräsidentschaft ganz und gar nicht als letzten Posten vor seinem politischen Ruhestand erachtet, ist jedem im Lande klar. Und auch er selbst hat sich von dieser Option nicht distanziert. Tusk könnte wohl kalkuliert haben: 2020 stehen in Polen die Präsidentschaftswahlen an. Allein schon deshalb wird er alles daran setzen, in Brüssel nicht zu scheitern.


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