Polen

Keine Angst mehr vor den Deutschen

Wiktoria Tulej aus Warschau erinnert sich noch gut an den Krieg. Als Kind erlebte sie, wie Soldaten der Wehrmacht tausende Menschen auf Warschaus Straßen erschossen und die Hauptstadt schließlich dem Erdboden gleichmachten. „Wer einmal den Krieg erlebt hat, vergisst ihn nie“, sagt die 80-Jährige.

Bis heute ist der 1. September 1939 für die Polen das einschneidenste historische Datum der jüngeren Geschichte. Der Tag, an dem die deutsche Wehrmacht ohne Kriegserklärung in Polen einfiel, ist Umfragen zufolge stärker in den Köpfen verankert als der EU-Beitritt Polens vor zehn Jahren. Sechs Millionen polnische Bürger kamen von 1939 bis 1945 ums Leben, die Hälfte davon waren Juden. Städte wie Danzig oder Warschau wurden im Zweiten Weltkrieg komplett zerstört.


Die Erinnerung hat Hochkonjunktur

Zur Gedenkfeier am 1. September kommen der polnische Präsident Bronislaw Komorowski und Bundespräsident Joachim Gauck auf die Westerplatte nach Danzig. Dort hatte vor 75 Jahren die Wehrmacht ihren Angriff auf Polen begonnen. Ministerpräsident Donald Tusk wird in Wielun der Opfer gedenken. Die kleine Stadt war damals das erste Ziel der Wehrmacht – 1.200 Bewohner kamen bei der überraschenden Bombardierung ums Leben.

Auch die 24-jährige Ada wird genau zuhören, was Joachim Gauck über deutsche Schuld und die Versöhnung beider Länder in Danzig zu sagen hat. Auch für ihre Generation sei der 1. September ein wichtiges Datum, erzählt die Studentin aus Poznan (Posen), deren Großvater als Kind ins Konzentrationslager kam.

Zwei von drei Polen finden, dass der Zweite Weltkrieg ein lebendiger Teil der Geschichte ist, an dessen Folgen man erinnern müsse. Filme, Serien und Ausstellungen über die Besatzungszeit haben derzeit Hochkonjunktur. In Danzig eröffnet demnächst ein Museum, das sich ausschließlich mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs beschäftigt.


Podolski und Klose haben ihren Anteil an der Entspannung

In der Gegenwart spielt der Zweite Weltkrieg allerdings nur noch selten ein Rolle. Das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen ist so gut wie nie zuvor. Über 70 Prozent der Polen hätten nichts dagegen, einen deutschen Chef oder Schwiegersohn zu haben, und Angela Merkel gilt in Polen als erfolgreichste Weltpolitikerin. 1990 begegneten noch 90 Prozent der Polen Deutschland mit Angst, 2010 waren es nur noch 14 Prozent.

Dazu beigetragen haben nicht nur Versöhnungsgesten von Politikern wie der berühmte Kniefall von Willy Brandt 1970 in Warschau, sondern auch Sympathieträger wie der Komiker Steffen Möller, der vor 20 Jahren von Wuppertal nach Warschau zog und seitdem einen festen Platz im polnischen Fernsehen hat.

Und dank der polnischstämmigen Fußballer Lukas Podolski, Miroslaw Klose und Robert Lewandowski haben auch deutsche Vereine überzeugte Fans in Polen. Bei der vergangenen Weltmeisterschaft fieberten Hunderttausende beim Public Viewing mit der deutschen Nationalmannschaft mit.


Neue Angst vor den Russen

Gerade bei der älteren Generation wird derzeit eher ein anderes Trauma wach: Die Angst vor den Russen. Denn auch ein anderer Jahrestag steht an: Am 17. September 1939, gut zwei Wochen nach der deutschen Wehrmacht, war die Rote Armee in Polen einmarschiert. Stalin und Hitler hatten sich das polnische Staatsgebiet untereinander aufgeteilt. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CBOS glauben gut 70 Prozent der Polen, die Situation in der Ukraine gefährde die Sicherheit im Land.

Die Boulevardpresse heizt die Stimmung seit Beginn der Ukraine-Krise auf. „Die Russen sind innerhalb von drei Tagen in Warschau“, drohte das Blatt „Fakt“ bereits während der Krim-Krise. Die Zeitung listete Standorte von Atomschutzbunkern auf und gab Ratschläge, was man im Ernstfall in den Evakuierungsrucksack packen sollte.


Polenwitze gehen gar nicht

Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum die Angst vor Deutschland verschwindet: Immer weniger Polen haben noch einen persönlichen Bezug zum Krieg. Früher berichteten Kriegsveteranen in den Schulen von ihren Erlebnissen. Doch von ihnen gibt es immer weniger. „Für meine Schüler ist der Krieg schon sehr weit weg“, bestätigt Maciej Gasecki, Lehrer an einem Gymnasium in Kostrzyn (Küstrin).

Empfindlich reagiert die polnische Öffentlichkeit immer dann, wenn sie vermutet, dass die Deutschen ihre Schuld relativieren könnten. So löste die ZDF-Serie „Unsere Mütter, unsere Väter“ im vergangenen Jahr Empörung aus, weil sie Angehörige der polnischen Heimatarmee als Antisemiten darstelle. Und als bei der diesjährigen Europa-Schwimmmeisterschaft in Berlin das polnische Team mit einem Witz über polnische Autodiebe begrüßt wurde, schaltet sich die polnische Botschaft in Berlin ein.

Mittlerweise war auch die 80-jährige Wiktoria Tulej mehrmals in Deutschland. Auch wenn sie den Deutschen heute positiv gegenüber steht: Die Angst vor neuen Konflikten ist geblieben. Die Beteiligung der Russen im Ukraine-Konflikt empfindet auch sie als direkte Bedrohung.


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