Sicher ist es nur im Dunkeln
Am Eingang des Kulturpalastes im Donezker Randbezirk Petrowskij erinnern Aushänge an frühere Tage: Fotos von Kindern beim Karatetraining, Werbung für Englischkurse, Probezeiten der Kindertanzgruppe. Doch die drei Stockwerke des wuchtigen klassizistischen Gebäudes sind verwaist. Im Bezirk Petrowskij, auf den jeden Tag Raketen und Granaten niederprasseln, ist es zu gefährlich geworden für Freizeitgestaltung.
Nur den Keller des Kulturpalastes erfüllt Leben. „Unseren Bienenstock“ nennt ihn Tatjana Wladimirowna, und wer mit der 36-Jährigen die Betonstufen in das Dunkel hinabsteigt, weiß, wie treffend dieser Ausdruck ist: Das Untergeschoss ist verzweigt wie ein Labyrinth, von einem langen Gang führen kleine Kojen weg. In ihrem Inneren harren Menschen aus. Nackte Wände, Leitungsgewirr, Kerzenschein. Manche sitzen hier seit Tagen, andere seit Wochen. „Ich bin seit 8. Juli hier“, sagt eine Frau, deren Gesicht unsichtbar bleibt. Eine andere sagt, sie sei am 2. August eingezogen. Sie sind gekommen, weil es ihnen über der Erde zu unsicher wurde. Alte Menschen, Frauen und 40 Kinder. Sie haben Stühle aneinander geschoben und alte Türen und Matratzen darüber gelegt. Auf diesen behelfsmäßigen Betten schlafen sie. Unter den Nachtlagern liegen Kleidung, Wasserflaschen, Spielzeug.
400 Menschen übernachten im Luftschutzraum des Kulturpalasts
Vor ein paar Wochen, als die Menschen noch in ihren Häusern lebten, inspizierten Beamte den Keller. Sie befanden, dass er als Luftschutzraum geeignet sei. Seine Wände sind zwischen 1,20 und 1,50 Meter dick. Der Keller stammt wie das Gebäude aus den 1930er-Jahren. Schon den Zweiten Weltkrieg hat das Gemäuer überstanden. Alle hoffen, dass es auch diesen Krieg überstehen wird.
Tagsüber, wenn es eher ruhig ist, halten sich etwa 100 Menschen im Kulturpalast auf, erklärt Swetlana Iwanowna. Iwanowna, eine füllige Frau mit sorgenvollem Blick, hat bisher am Eingang des Kulturhauses Wache geschoben. Seit die Kampfhandlungen Donezk erreicht haben, betreut sie gemeinsam mit anderen Freiwilligen die Zivilisten. Am Morgen schlüpft sie hinaus, um Gebrechliche in ihren Quartieren mit Essen zu versorgen, in leerstehenden Wohnungen nach dem Rechten zu sehen und im Supermarkt ein paar Lebensmittel zu erstehen. Gegen Abend, wenn sich der Artilleriebeschuss über dem Arbeiterviertel verstärkt, füllt sich der Keller. Eilig laufen die Menschen herbei, an der Seite des Stalinbaus entlang, wo in großen roten Buchstaben steht: „ubeschischte“. Luftschutzbunker. Dann sitzen hier 400.
Tatjana Wladimirowna, deren zarte Figur in einem grün-schwarz gemusterten Hausmantel steckt, hat Anfang August mit ihrer siebenjährigen Tochter hier Zuflucht gesucht. Am 2. August schlug eine Grad-Rakete in einer Schule gleich neben ihrem Wohnbau ein. Die Wucht der Explosion zerbarst die Fensterscheiben, Gegenstände flogen durch die Luft. Vor dem Haus knickte ein Baum um. Sobald der Beschuss vorbei war, flüchteten Mutter und Tochter mit ein paar Tüten. Wladimirowna sitzt im Kulturhaus und denkt an ihre Waschmaschine, den Mikrowellenherd, den Boiler. Alles, was sie besitzt, befindet sich in diesen vier Wänden. Sie traut sich nicht mehr zurück. Die Angst vor Plünderern ist groß, doch noch größer ist die Angst vor neuen Einschlägen. „Jeden Tag warte ich auf die Nacht, jede Nacht auf den Tag“, sagt sie. Am Abend ist es wichtig, sagt sie, rechtzeitig vor dem intensiven Beschuss einzuschlafen. Vor zehn Uhr.
Schon die Kinder wissen: Die Separatisten sind gut, die Armee böse
Die Bewohner des Kulturpalastes sind überzeugt, dass es die ukrainische Armee war, die ihre Wohnungen zerstört hat. Ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch aus dem Juli vermutete ebenfalls, dass das Viertel von ukrainischen Stellungen bombardiert wurde. Doch auch die Separatisten verfügen über schwere Waffen und feuern aus dem Stadtgebiet heraus. Oft ist im Nachhinein nicht mehr feststellbar, wer für welchen Schlag verantwortlich war. Raketensysteme werden aufgestellt und wieder abgebaut, die Stellungen ändern sich, die Front bewegt sich. Einmal seien an einem Tag 16 Menschen umgekommen, sagt Swetlana Iwanowna. Doch die genauen Opferzahlen der vergangenen Wochen kennt niemand. Der Stadtbezirk liegt nahe der Front. Die Grad-Raketen haben eine große Zerstörungskraft, aber sind nicht sehr zielgenau.
Wladimirowna steht mit anderen Frauen im geschützten Innenhof, dem einzigen Ort, wo sie sich an die Luft trauen. Auf ein paar Quadratmetern spielen die Kinder. Sie kennen die Vokabeln des Krieges, sie wissen, dass „Widerstandskämpfer“ gut sind und die ukrainischen Soldaten böse, so sagen es die Eltern. Die Kinder reden über Bomben wie über Spielzeug, aber wenn der Beschuss lauter wird, sind sie die ersten im Keller. Die Kinder von Petrowskij werden diesen Sommer nicht ans Meer fahren. Sie wissen nicht, wann die Schule wieder beginnen wird.
Aus Kiew erwarten die Menschen im Luftschutzraum keine Hilfe
Im Innenhof quillt der Müll aus den Tonnen. Es gibt niemand, der ihn wegbringen könnte. Ein paar Meter weiter steht Tatjana Wladimirowna und kocht Kartoffeln am offenen Feuer. Eine andere Frau hat aus Hackfleisch Laibchen geformt, die in der geschwärzten Pfanne brutzeln. „Ein Luxus-Essen habt ihr heute“, sagt Wladimirowna zu der anderen Mutter. Fleisch und Wurst muss sofort zubereitet werden. Strom gibt es derzeit keinen, also auch keinen Kühlschrank.
„Wer hätte gedacht, dass ich mal so leben werde?“, fragt die Kindergärtnerin. Sie stammt aus einer Bergarbeiterfamilie, sie fühlt sich als Angehörige der Arbeiterklasse. Sie ist russischsprachig, in Kiew war sie noch nie, ihre Heimat war die Sowjetunion und ist heute der Donbass. Der Aufstand gegen den früheren Präsidenten Viktor Janukowitsch ist ihr so fremd wie der Westen. Übrig bleibt das Gefühl, dass die Belagerten nun für die Taten der anderen bezahlen müssen. „Kiew hat uns doch längst vergessen, nur der Donbass sorgt für uns.“ Der Donbass, oder vielmehr dessen neue Herren von der Donezker Volksrepublik.
Aus Kiew erwartet die Schicksalsgemeinschaft keine Hilfe. Auch vom Roten Kreuz oder anderen Hilfsorganisationen haben die Menschen noch nie Güter erhalten. Nur die „Denerowzi“, die Donezker Separatisten, bringen Nahrung und Medikamente vorbei. Sie haben Zettel mit der Nummer eines Notfalltelefons verteilt. Schon wieder sind fast alle Windeln aufgebraucht. Eine Palette Wasserflaschen steht in einer Ecke. Mit der kostbaren Flüssigkeit bereiten die Mütter Babybrei zu. „Die Denerowzi helfen uns, wo sie können“, sagen sie. Die Menschen in Petrowskij sind ihnen dankbar. Eine andere Wahl haben sie nicht.