Slowakei

Zweite Chance für ein vergessenes Handwerk

Wer heute nach Bardejov fährt, tut es wahrscheinlich wegen der schmuck sanierten Altstadt, einer Unesco-Weltkulturerbestätte. Wenige Kilometer entfernt aber erinnert ein heruntergekommenes Gebäude aus sozialistischer Zeit an die große Vergangenheit der ostslowakischen Kleinstadt. An dem achtstöckigen Bau verraten nur noch der Schriftzug „JAS“ und das Logo mit zwei stilisierten, aufeinander gestapelten Schuhen, dass hier einst der größte Arbeitgeber der Region residierte.


Das Logo von JAS, zwei aufeinander gestapelte Schuhe / Martin Fejer, n-ost, EST&OST


Von hier aus gingen bis 1989 hunderte Millionen von Schuhen sowohl in den Westen als auch in osteuropäische Partnerstaaten und die Sowjetunion. Zusammen mit der JAS-Filiale im rund 100 Kilometer östlich gelegenen Snina stellte das Kombinat in Bardejov einen Großteil der rund 30 Millionen Paar Mode-, Sport- und Arbeitsschuhe her, die die Tschechoslowakei in den 1980er-Jahren jährlich in die Sowjetunion exportierte. Die Schuhindustrie war damals ein bedeutender Wirtschaftsfaktor im Land, in den beiden JAS-Werken arbeiteten 8.000 Menschen.


Die Schuhe gingen in den gesamten Ostblock

Eine der ehemaligen JAS-Arbeiterinnen ist Kristina Goc-Benkova, die im Gründungsjahr von JAS, 1957, in Polen geboren wurde. Mit 19 Jahren kam sie nach Bardejov, weil sie ein anderes Land kennenlernen wollte, aber auch weil das Staatsunternehmen JAS damals Arbeitskräfte suchte und hohe Löhne bot. „Mein Abschluss als Köchin und Kellnerin wurde hier nicht anerkannt“, erzählte die 57-Jährige. Also ließ sie sich bei JAS zur Schusterin ausbilden.


Kristina Goc-Benkova produzierte bei JAS Schuhe für die Ostblock-Staaten / Martin Fejer, n-ost, EST&OST


„Wir waren damals mehr als 4.500 Arbeiter. Jede Woche gingen Tausende von Schuhen in Eisenbahnwaggons nach Russland und in andere Länder“, erzählt die kleine blonde Frau lachend. In ihrem Slowakisch ist bis heute ein leichter polnischer Akzent hörbar. „Obwohl es eher Fließbandarbeit war, mochte ich mein Handwerk“, sagt sie. Nie hätte sie geahnt, dass sie es 17 Jahre lang nicht würde ausüben können: „1985 ging ich in den ersten Mutterschaftsurlaub, dann bekam ich mein zweites Kind. Als ich im Herbst 1989 zurück wollte, war es aus mit dem Schusterjob“, erinnert sie sich. Die Samtene Revolution machte ihr einen Strich durch die Rechnung: „Einen Monat später landete ich beim Arbeitsamt.“ Ihre Abteilung war unmittelbar nach der Wende aufgelöst worden.


Arbeitslosigkeit war unvorstellbar

Goc-Benkova fiel damals in ein Loch: „Wenn Sie auf dem Arbeitsamt sind, fühlen Sie sich unnütz. Ich war damals 32, ich fühlte mich alleine, gehörte zu keinem Arbeitskollektiv mehr.“ In der Euphorie der Wendezeit habe niemand erwartet, dass es in der Region plötzlich weniger Arbeitsplätze geben würde. Arbeitslosigkeit war etwas Unvorstellbares, das in der Tschechoslowakei quasi nicht existiert hatte. Das prägte die Einstellung gegenüber den neuen Arbeitslosen – worunter Goc-Benkova noch mehr litt als unter der Tatsache, dass sie wegen des überdurchschnittlichen Einkommens ihres Mannes kein Arbeitslosengeld erhielt, sondern nur Sozialhilfe: „Meine Probleme interessierten damals niemanden. Das war kein gutes Gefühl.“

Nach der Wende ging die Schuhproduktion in der neu entstandenen Slowakei drastisch zurück. Handelspartner in der ehemaligen Sowjetunion wurden zahlungsunfähig, auch in andere Länder Osteuropas wurde weniger exportiert. Zehn Jahre nach der Wende betrug die Schuhproduktion in der Slowakei nur ein Zehntel der Produktion vor 1989.


 Das ehemalige JAS-Verwaltungsgebäude steht schon lange leer / Martin Fejer, n-ost, EST&OST


Auch JAS bekam die Folgen der billigeren Konkurrenz aus China und des Vordringens westlicher Schuhmarken auf den slowakischen Markt zu spüren. Zudem ließen steigende Arbeitslosigkeit und sinkende Kaufkraft in der Slowakei die Umsätze einbrechen, JAS musste schließlich Konkurs anmelden. Bardejov hat sich von diesem Schlag nicht erholt. Einst arbeitete ein Siebtel der Stadtbevölkerung in der Schuhfabrik, heute gehört der Kreis Bardejov mit einer Arbeitslosenquote von 20 Prozent zu den ärmsten Regionen der Slowakei.


Jetzt sind die Schuster wieder gefragt

Der Niedergang der Schuhindustrie in der ehemaligen Tschechoslowakei war aber zugleich eine Chance für Firmen wie Obuv Special. Das Unternehmen beschäftigt in einem ehemaligen JAS-Gebäude heute etwa 250 Menschen. Ende der Neunziger Jahre gab es eine unbefriedigte Nachfrage nach festem Schuhwerk für Militär, Polizei, Feuerwehr und Sicherheitspersonal. „Wir haben die Lücke genutzt, die JAS hinterlassen hat“, erzählt Viliam Kohut, damals JAS-Mitarbeiter und heute Finanzdirektor von Obuv Special. Es sei ein Glück gewesen, dass noch so viele Schuster aus der alten Fabrik in der Region lebten. „Wir waren froh, dass wir keine neuen Mitarbeiter schulen mussten“, sagt Kohut. Eine Perspektive konnte Obuv Special allerdings nur wenigen der ehemaligen JAS-Mitarbeiter bieten: Nur rund 150 von 5.000 fanden hier einen neuen Job.

Kristina Goc-Benkova kam vier Jahre später dazu. Sie fragte im Jahr 2002 bei der Firma nach Arbeit. Nach der Geburt ihres dritten Kindes hatte sie nur einmal kurzfristig einen Job in einem Betriebsimbiss gefunden. „Ich musste nichts Großartiges dazulernen“, erinnert sie sich an ihren beruflichen Neustart. „Angefangen habe ich an Nähmaschinen, jetzt mache ich Handarbeit und setze das ganze Lederschuhoberteil zusammen.“ Sie stellt nicht nur schwere Arbeitsschuhe her, sondern auch moderne Wanderschuhe, lederne Damenpumps oder Stiefel und Schuhe für teure westliche Marken.


Viliam Kohut, Finanzdirektor bei Obuv Special, hat vom Niedergang von JAS profitiert / Martin Fejer, n-ost, EST&OST


„Wir schätzen Fachleute wie Kristina“, sagt ihr Chef Kohut. Vor allem die Arbeitserfahrung zähle. Früher waren Bardejov und Snina Hochburgen der Schuhindustrie, doch durch den Untergang der Schuhbetriebe in den beiden Städten und die Überalterung der Schuster verschwinde das Handwerk in der Ostslowakei allmählich, bedauert der Finanzdirektor. „Im Moment werden keine jungen Schuster in der Region ausgebildet.“ Dabei seien es gerade gutes Handwerk und Qualität, welche die Kunden von Obuv Special schätzten.


Nach vorne schauen

Die Firma erzeugt heute jährlich etwa 250.000 Paar Schuhe. 60 Prozent davon werden in die EU exportiert, zehn Prozent nach Norwegen, 30 Prozent der Produktion machen Schuhe für Feuerwehrleute und Sicherheitseinheiten in der Slowakei aus. Arbeitsschuhe für Industriearbeiter, Armee, Feuerwehr oder Polizei bilden den Großteil der Produktion.


Kristina Goc-Benkova hat bei Obuv Special einen neuen Arbeitsplatz gefunden / Martin Fejer, n-ost, EST&OST


Kristina Goc-Benkova arbeitet an einem Holztisch im fünften Stock des schmucklosen Produktionsgebäudes, unter Neonröhren und umgeben von fünf Kolleginnen. Als sie an diesem Tag anfängt zuarbeiten, greift sie zuerst zu einem Damenstiefeloberteil und entfernt mit Lösungsmittel Kleberreste vom Inneren des Lederteils. Nach zwei Minuten folgt der nächste Stiefel. So geht es acht Stunden am Tag, unterbrochen von der halbstündigen Mittagspause, jeden Tag von montags bis freitags.

Nach der Schicht schlüpft die Schusterin aus ihrem Arbeits-T-Shirt, zieht ein pinkfarbenes Top und eine graue Caprihose an. Sie verlässt das Gebäude und geht an dem längst leerstehenden Bau mit dem JAS-Schriftzug vorbei, in dem sie vor der Wende gearbeitet hat. „Damit verbindet mich nichts mehr “, sagt sie. „Man muss nach vorne schauen.“


Weitere Artikel