Warschauer Aufstand: 70 Jahre Schweigen
Das letzte Mal hat Wieslaw Kepinski seine Eltern und Brüder an einem Samstag im August 1944 gesehen. Die Familie stand mit 60 weiteren Frauen, Männern und Kindern vor der Kirche im Warschauer Stadtteil Wola. Vor ihnen Soldaten mit Maschinenpistolen. „Ich bin ausgerissen und gerannt“, erzählt der heute 82-Jährige. Seine Familie hat er nie wiedergesehen.
Es war der 5. August 1944. An diesem Tag wurden in den Warschauer Bezirke Wola und Ochota 20.000 Zivilisten erschossen, erstochen oder lebendig verbrannt. Am 1. August hatte der Warschauer Aufstand begonnen. 63 Tage kämpfte die Polnische Heimatarmee gegen die deutschen Besatzungstruppen. Die Situation war aussichtslos. Nach der Niederschlagung machten die Nazis Warschau dem Erdboden gleich.
Für das Massaker gab es eine Auszeichnung
Beauftragt mit der Niederschlagung des Aufstandes wurde Heinz Reinefarth, SS- Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS und Polizei. Er war für die Erschießung am 5. August verantwortlich. In den ersten fünf Tagen des Aufstandes wurden allein 50.000 Menschen umgebracht. Für seinen Einsatz in Warschau zeichnete ihn die NS-Führung mit einem Orden aus – dem Eichenlaub zum Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes.
Fast 70 Jahre später, im Januar 2013, bekommt Anja Locher, Pfarrerin der evangelischen Gemeinde von Westerland auf Sylt, eine Mail aus Polen. „Ist Ihnen bewusst, dass ihr ehemaliger Bürgermeister, Heinz Reinefarth, der Henker von Warschau ist?“, fragt der Absender. Die Pastorin lebt seit 17 Jahren auf Westerland, über Reinefarth weiß sie nichts. Sie recherchiert im Internet, in Kirchendokumenten. Das Ergebnis erschreckt sie: Im Westerländer Rathaus saß jahrelang ein Kriegsverbrecher.
Die Leute mochten ihn
Nachdem er aus der britischen Kriegsgefangenschaft entlassen wurde, zog Reinefarth auf die Insel. Den Briten stellte sich Reinefarth als ahnungsloser Soldat und Beamte dar, der von KZs und Judenvernichtung nichts wusste. Auch seine Tätigkeit in Warschau verschwieg er. Auf Sylt fing Reinefarth ein neues Leben und eine politische Karriere an. 1951 wurde er Bürgermeister, er behielt das Amt bis 1964.
Ernst Wilhelm Stojan hat damals gegen Reinefarth gestimmt. Der 86-jährige saß jahrelang für die SPD im Landtag von Schleswig-Holstein. „Die Leute mochten ihn“, sagt Stojan. „Reinefarth war zugänglich, freundlich und hilfsbereit“. Vor allem aber sei er ein guter Verwalter gewesen. Zu seiner Zeit boomt Westerland, Touristen kommen, den Bewohnern geht es gut. Er findet Unterstützer sogar bei der SPD. Reinefarth selbst gehört zum Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten.
Als die ostdeutsche DEFA 1957 im Film „Urlaub auf Sylt“ Reinefarths Vergangenheit thematisiert, tut er die Behauptungen als kommunistische Propaganda ab. Ermittlungen gegen ihn werden eingestellt. Das reichte als Beweis für Reinefarths angebliche Unschuld. „Die Leute wollten die Wahrheit nicht wissen“, sagt der SPD-Politiker Stojan. 1958 zieht Reinefarth in den Landtag in Kiel ein. Erst in den sechziger Jahren wird es eng für ihn: Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Kriegsverbrechen gegen ihn, weil neue Beweise aufgetaucht sind. Später wird Ermittlung eingestellt, weil dem Staatsanwalt die Beweise nicht ausreichen, doch dem Landtag wird es mit Reinfarth zu heikel. Er tritt er zurück und arbeitet bis 1979 als Anwalt auf Westerland. Die Ermittlungen werden eingestellt, denn damaligen Staatsanwalt reichen die Bereise nicht.
Erst im Juli wurde eine Mahntafel am Rathaus angebracht
Als die Pastorin Anja Locher vor einem Jahr zu recherchieren anfängt, stößt sie auf Schweigen. Die junge Generation kennt den Namen nicht mehr, die Alten wollen nicht reden. „Uns fehlten Informationen“, sagt Peter Schnittgard, der heute als Bürgervorsteher im Rathaus sitzt. Er und Anja Locher erhalten nun unfreundliche Mails. „Wir hören oft, dass man die Geschichte ruhen lassen soll. Die Polen seien auch nicht besser gewesen“, erzählt die Pastorin. Die alte Generation sei zerrissen: „Einerseits haben sie positive Erfahrungen mit Reinefarth gemacht, als freundlicher und kultivierter Mensch, der Sylt wieder aufgebaut hat. Anderseits hören sie, dass er ein Verbrecher war, der Frauen und Kinder umgebracht hat“.
Erst zum 70. Jahrestag des Warschauer Aufstandes wurde eine Mahntafel am Rathaus angebracht. Sie erinnert an die 150.000 zivilen Opfer, sowie an den Mann, der dafür mitverantwortlich war und später in diesem Gebäude regierte. Über den Text wurde lange diskutiert. Die Familie und einige Bürger waren dagegen, denen vor allem nicht gefiel, dass man Reinefarth ausdrücklich nennt. „Wir wollen uns entschuldigen, nicht dafür, war Reinefarth gemacht hat, dafür sind wir hier nicht verantwortlich, sondern dafür, dass er hier Bürgermeister sein durfte“, sagt Peter Schnittgard. „Es ist nie zu spät, die Geschichte aufzuarbeiten“.
Wieslaw Kepinski wurde bei Flucht verwundet, doch er überlebte. Später wurde seine Familie und weitere 1.500 Leichen auf einem benachbarten Friedhof verbrannt. Nach dem Krieg wurde die Asche der Opfer der Reinefarth-Aktion exhumiert, 12 Tonnen wog sie. Sie wurden auf einem neuangelegten Friedhof für die Opfer des Aufstandes bestattet, in einem Sammelgrab.