Warschau kehrt an die Weichsel zurück
Als erste kommen die Angler ans Ufer, frühmorgens, wenn es erst dämmert über der Weichsel. Da gehen gerade die letzten Clubbesucher nach Hause. Am Vormittag kommen Familien, nachmittags die Angestellten aus den Büros. Abends staut es sich dann wieder auf der Promenade. Die Warschauer sind auf der Suche nach Musik, Kultur und Entspannung – und einem Hauch von Sommerfeeling mitten in der Hauptstadt.
Filmvorführungen, Theater, Konzerte, Tanzkurse, Kunstwerkstätten: „Das Ufer schläft nie, ständig läuft hier was“, freut sich der gebürtige Warschauer Przemyslaw Dziublowski. In der prallen Julisonne sitzt der 39-Jährige am Strand vor seiner Bar „Wunder an der Weichsel“.
Noch vor fünf Jahren war das Weichselufer ein Niemandsland. Nur Säufer verirrten sich hierher, manchmal stand ein Angler bis zu den Knien im stinkenden Wasser. Schutt, Müll und Flaschen häuften sich im Gebüsch. Die Einheimischen mieden den Ort, Touristen flüchteten enttäuscht. Dabei war die Weichsel lange ein Lieblingsort der Hauptstadtbewohner gewesen, hier hatten sie sich gesonnt und gebadet. Bis in den 1960er Jahren nach einer Flussregulierung die Strömung stark zunahm und die beliebten Strände wegspülte. Die Warschauer kehrten dem Fluss den Rücken.
Dann kam Dziublowski und hatte ein Traum. Die Weichsel sollte wieder zum Kern der Stadt werden. 2009 gründete er mit einem Kumpel seine Bar, mit einer klaren Vorstellung: „Wir wollten einen Ort, wo wir uns wohl fühlen“. Nicht einfach nur eine Kneipe, sondern ein Ort, wo man alternative Musik und anspruchsvolle Filme genießen kann, nah an der Natur.
Die Idee hat sich durchgesetzt und Nachfolger gefunden. Seitdem schießen sogenannte Klubokawiarnie – Klubcafés – am Ufer aus dem Boden. Essen und Trinken ist hier Nebensache, die meisten Clubs sind Kulturprojekte von Idealisten. Die Gäste sitzen auf Paletten. Kisten übernehmen die Funktion von Tischen. Und anstelle von festen Bauten stehen Container am Ufer. Der Recycling-Stil hat auch praktische Gründe, erklärt der Pionier Dziublowski. Wenn der Flusspegel steigt, müssen die Clubs schnell evakuierbar sein.
Doch der Recycling-Stil ist inzwischen auch zur Mode und zum Symbol der Weichselclubs geworden. „Wir wollen kein zweiten Berlin oder Paris sein“, sagt Dziublowski. „Wir brauchen niemanden nachzuahmen, denn die Warschauer Weichsel ist einmalig“. Vor einigen Jahren kam eine Delegation aus Japan nach Warschau. Sie war beeindruckt, wie viel die Stadt für den Erhalt der Wildnis an der Weichsel ausgibt, erzählt Dziublowski. Die Café-Clubs entstehen auf dem linken Ufer, auf dem rechten hingegen lässt sich weitgehend unberührte Natur genießen.
Die Stadtverwaltung ließ dort die Strände wieder aufschütten, sie bieten eine Heimat für Biber, Seeadler, Kiebitze und Mauersegler. Nur weil sich die Stadt lange Zeit nicht für den Fluss interessierte, blieb die östliche Seite in diesen Zustand erhalten. Heute sind die Warschauer stolz auf beide Uferseiten. National Geographic zählt die Weichselstrände zu den schönsten Stadtstränden weltweit, moderne Kläranlagen sorgen für sauberes Wasser.
Auch Dziublowski verbringt jeden Tag in Warschau am Wasser, er kann nicht genug kriegen von der Weichsel. Ebenso die Warschauer. „Die Älteren sind überrascht, wie sich die Weichsel verändert hat. Die Jüngeren kennen und lieben die Weichsel nur so, wie sie heute ist“, sagt Dziublowski.