Albanien

Die Wiederentdeckung der Langsamkeit

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Der Bahnhof von Tirana existiert nicht mehr. Baumaschinen und Planierraupen dröhnen auf dem Gelände. Das 60 Jahre alte Gebäude haben sie schon dem Erdboden gleichgemacht, es soll Platz machen für ein neues Eisenbahnterminal.
An den letzten verbogenen Schienen des alten Bahnhofs machen sich Roma mit Spitzhacken zu schaffen. Im Bahnhofsrestaurant beginnt unterdessen eine Hochzeit. In der Abfertigungshalle treffen gerade die Gäste ein, als ein überfüllter Bus auf dem Vorplatz hält: Schienenersatzverkehr für die ersten 20 Kilometer der Strecke zwischen Tirana und Shkodra.

Die Türen öffnen sich, der Kampf um die Plätze beginnt. Ein Mann mit verkrüppelten Beinen, der anscheinend vom Verkauf leerer Plastikflaschen lebt, wird dabei fast umgetreten. Ein anderer Passagier sinkt todmüde in den Sitz. Nach einer 24-Stunden-Schicht bei der Zollabfertigung fährt er zurück in sein Dorf: „Mein Sohn lebt in den USA, meine Tochter in England. Vor fünf Jahren habe ich sie das letzte Mal gesehen“, erzählt er und lächelt bitter. Ein anderer Fahrgast versucht, die letzten Pfirsiche zu verkaufen, die er auf dem Markt nicht losgeworden ist.


Ein Fahrschein kostet 1,20 Euro

Eine Zugreise durch Albanien bedeutet Entschleunigung pur. Für die 111 Kilometer von Albaniens Hauptstadt Tirana bis ins nordalbanische Shkodra braucht der Zug fünfeinhalb Stunden. Ein Fahrschein kostet umgerechnet 1,20 Euro, selbst für albanische Verhältnisse ein unschlagbarer Preis. Und das entscheidende Argument dafür, dass viele Albaner mit dem Zug reisen. Wer genug Geld hat, fährt mit dem Auto. Zehn bis 40 Stundenkilometer fährt der Zug, die Landschaft zieht im Schneckentempo an den von Steinschlägen zersplitterten Scheiben vorbei.

Ab und zu geht ein Schienenstoß durch den Zug. Die tschechische Diesellokomotive T669, Baujahr 1968, pflügt sich durch Maisfelder, durch Granatapfel- und Feigengärten, vorbei an den frisch gestrichenen und geflaggten Häusern zurückgekehrter Emigranten. Auf einer Ziegenweide üben Mädchen Ballett. Winkende Jungen treiben eine Truthahnherde der Sonne entgegen.


Manche reisen lieber auf dem Dach mit

Nach vier Stunden tauchen die sanften Hügel der Zadrima und die bis auf 1.700 Meter ansteigenden Bergrücken von Derven auf – eine nahezu unbesiedelte Einöde. Eine alte Frau aus den nahe gelegenen Mirdita-Bergen strickt im Zug eine Weste für ihren Enkelsohn. Sie fährt zurzeit zwei Wochen lang Tag für Tag zur Kur in die Schwefelbäder des Örtchens Llixha östlich von Tirana. „Das tut meinen Knochen gut, und Zeit für meine Handarbeit habe ich auch“, erklärt sie.

An der Strecke steht ein verrosteter VW-Bus ohne Räder, ein Mann mit Schlapphut und verschlagenem Blick verkauft daraus bei einem Stopp Getränke an die Reisenden. Junge Männer hängen sich während der Fahrt grölend aus Fenstern und Türen, das Bahnsurfen macht ihnen Spaß. Manch einer schafft es bis auf das rutschige Dach des Waggons.

Bei Lac sind 50 Kilometer geschafft. Ein Minzduft von Wiesenkräutern drängt in den Waggon, während der Zug an den Ruinen einer alten Phosphatfabrik vorbeifährt. Wenig später taucht die stolze Festung von Lezha auf einer Bergkrone auf: Hier soll vor mehr als 500 Jahren Albaniens Nationalheld Skanderbeg die Prinzen Albaniens zum Kampf gegen die osmanische Fremdherrschaft zusammengerufen haben. Ein Junge steigt zu. Er fährt täglich zum Basar von Shkodra, um Tabak zu verkaufen: Ein halbes Kilo für umgerechnet sieben Euro.


Der Zug ist voll: Heute ist Basar

Der Zug überquert in waghalsiger Fahrt über eine Betonbrücke die glitzernden Wasserflächen des aufgestauten Drin-Flusses. Auf den sich anschließenden Stauseen kann man per Fähre weiter ins Landesinnere vorstoßen. Kurz vor der Endstation Shkodra gibt es noch einen außerplanmäßigen Halt zum Äpfelpflücken direkt aus dem Fenster. Die Ernte teilt man sich im Waggon. Die Rückfahrt am nächsten Morgen um kurz vor sechs Uhr beginnt in absoluter Dunkelheit. Die Schaffnerin treibt Schwarzfahrer mit einer Taschenlampe zur Kasse in der Bahnhofshalle. Der Maschinist grüßt freundlich von seiner Lok: „Mit der bin ich verheiratet, seit 35 Jahren, mit meiner Frau nur 20 Jahre!“ Er lacht über beide Ohren.

Der Zug ist trotz der frühen Morgenstunde voll, denn heute ist Basar in Milot. Die Passagiere haben ihre lebenden Hühner und Enten säuberlich in Plastiktüten verpackt. Frische Eier, Früchte und Besenstiele wechseln teilweise schon im Zug ihren Besitzer. Eine Familie ist unterwegs zum Sonntagsbesuch beim Großvater in Lezha. „Wir fahren Zug, weil uns in den schnellen Autos einfach übel wird“, sagt der Vater. 

Zum Frühstück bietet die Schaffnerin Raki und Börek an

Mit strengem Blick entwertet die Schaffnerin die Fahrkarten, sie benutzt dazu eine Nagelschere. Ein junger Mann raucht im Waggon und bekommt ihren Arbeitseifer zu spüren: „Lernt euch zu benehmen, das hier sind neue Waggons, sonst bezahlt ihr vier Euro Strafe!“, droht sie. Nebenan meditieren zwei Roma vor sich hin, während Turbofolk aus ihren Handys dudelt. Gerade als die Schaffnerin um sieben Uhr zum Frühstückstisch mit Spinat-Börek und Raki aus Plastikbechern lädt, erreicht der Zug den Viehmarkt von Milot, die meisten Passagiere steigen aus, während der Zug im Schritttempo weiter Richtung Tirana fährt.

Auf den verbogenen Schienen der alten Bahntrasse sitzen Bauern in der Morgensonne und feilschen um den Preis ihrer Ochsen. Die Fremden stören sie nicht – im Gegenteil: „Dreh dir auch eine Zigarette und setz’ dich zu uns“, sagt ein Bauer mit Fatalismus im Blick und einer Seelenruhe, die nur ein Bahnreisender in Albanien nachempfinden kann.


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