Tschechien

Pilsen: Man spricht Tscheutsch

Umrahmt von schmuck restaurierten Bürgerhäusern aus fünf Jahrhunderten glitzern drei hypermoderne vergoldete Brunnen in der Sonne. „Das Ding, das aussieht wie ein griechisches Pi, ist ein Kamel“, erklärt Stadtführerin Barbora Zivna auf dem Platz der Republik in Pilsen (Plzen). Das Tier erinnert an eine Anekdote aus der Reformationszeit: Während des Dreißigjährigen Kriegs belagerte die Hussiten die westböhmische Metropole. Mit einem Kamel wollten sie den Eingeschlossenen Angst einjagen. Vergeblich: Die Pilsener holten sich das Tier und hielten durch. Die Belagerer gaben bald auf, die Stadt blieb ein Zentrum der katholischen Gegenreformation.

Nach Jahrzehnten ohne Bischof ist Tschechiens viertgrößte Stadt seit 1993 wieder Bistumssitz. „Gulasch“ nennt Bischof Frantisek Radkovsky den modernen Glaubensmix im statistisch gesehen atheistischsten Land Europas: ein bisschen Buddhismus, etwas Esoterik, ein Schuss Christentum. Pilsen , einst 70 Kilometer vom Eisernen Vorhang entfernt gelegen, präsentiert sich heute betont weltoffen, als Schmelztiegel der Kulturen. So lautet auch das Motto des Kulturhauptstadtjahres, das 2015 in Pilsen stattfindet, „Open Up!“.


Deutsch-tschechisches Sprachknäuel

Gefeiert wird vor allem in der frisch sanierten Altstadt, die zwei goldene Davidsterne der Großen Synagoge überragen. Das backsteinerne Gotteshaus wurde im späten 19. Jahrhundert für die einst 4.000 Juden der Stadt gebaut. Nur wenige von ihnen überlebten den Holocaust. Heute zählt Pilsens jüdische Gemeinde 120 Mitglieder. Die Synagoge – die zweitgrößte Europas – diente nach dem Krieg als Lagerhalle, später wollten Stadtplaner sie für einen Parkplatz abreißen. Dann kam die Wende – die Synagoge wurde in den Neunzigerjahren saniert und dient nun wieder als Bethaus und Veranstaltungsort.

1.600 Plätze habe die Synagoge, erzählt Jana Zazkova, die Besucher durch den prächtigen Bau führt. Sie habe einige Jahre in Israel gelebt, erzählt sie, glücklich sei sie dort nicht geworden. Sie vermisste ihre tschechische Muttersprache, ihre überschaubare Heimatstadt und die Synagoge.

Pilsen überrascht nicht nur mit diesem Bauwerk, das den Krieg unbeschadet überstanden hat. In Kellern und Hinterhöfen der Innenstadt blüht ein buntes Kulturleben, mit Musikkneipen, die fast jeden Tag ein Live-Konzert bieten, oder dem Theater „A BASTA!“, das Stücke in einer eigenen Sprache spielt. In einer Mischung aus Tschechisch und Deutsch, dem Tscheutsch, nehmen die jungen Schauspieler Verständigungsprobleme der Nachbarn auf die Schippe: Zwei Männer stecken Rücken an Rücken in einem T-Shirt. Mal spricht der eine auf Deutsch zum Publikum. Dann drehen sich beide ruckelnd um, bis der Andere auf Tschechisch fortfährt. Eine Dolmetscherin hilft, das Sprachknäuel zu entwirren.

Auch Stadtführungen gibt es auf Tscheutsch. Die Teilnehmer bekommen Aufgaben gestellt, lernen so die Stadt kennen und Wörter in der jeweils anderen Sprache. Barbora Zivna führt Gruppen zwei- und mischsprachig durch die Stadt. Ihre Vorgängerin Franziska Stölzel aus Sachsen lebt seit vier Jahren in Pilsen. Die junge Kulturwissenschaftlerin schwärmt: „Wenn du in die Hinterhöfe und Keller schaust, wirst du viele tolle Menschen kennen lernen, die für ihre Stadt einstehen und sie lieben.“

Vor 15 Jahren zogen Künstler in das halb verfallene Gebäude des 1904 erbauten Südbahnhofs, richteten Ateliers und Probenräume ein. Auf der Bühne in der ehemaligen Bahnhofshalle treten Theatergruppen und Tanz-Ensembles auf. „Wir verbinden Kunst mit Bildung“, erzählt Roman Cernik in der Wohnstuben-Kneipe des „Johan“-Zentrums. Über der selbstgebauten Theke hängt das ausgemusterte schwarz-weiße Bahnhofsschild. Die Gäste sitzen auf abgewetzten Stühlen, die Unterstützer gespendet haben. Cernik, Jahrgang 1963, kräftig und bärtig, hat das Kulturzentrum mitgegründet: Tanztheater, Musik, Malerei, Fotografie, Workshops. Das „Johan“ habe sich in Pilsen seinen Platz erkämpft, freut sich Cernik: „Der Bürgermeister unterstützt uns und mit der Europäischen Kulturhauptstadt planen wir Projekte.“


Kulturmanager wie Außerirdische

Überall im Zentrum werben Plakate und Flaggen für Pilsens Auftritt 2015. Manche der Kulturmanager wirken hier wie Außerirdische: Intellektuelle, meist aus der Hauptstadt Prag, wie der künstlerische Leiter Petr Forman. Unter dem Motto „Open Up!“ will der Sohn des Regisseurs Milos Forman mit „leicht zugänglichen Angeboten auf hohem Niveau“ begeistern: Zirkus ohne Tusch und Tiere, ein Auftritt der bunten Riesenfiguren der Compagnie Royal de Luxe aus Nantes, ein barocker Musiksommer oder ein interaktives Riesenkarussell – Verlockungen „an der Nahtstelle zwischen Attraktion und Kunst“. Die Pilsener seien vorsichtig, räumt Forman ein. „Aber wenn sie das Programm sehen, werden sie mitmachen.“

Die Kulturhauptstadt lädt die Einheimischen zum Mitgestalten ein. Das Organisations-Team arbeitet an einer Handy-App, in der historische Charaktere Geschichte und Alltag der Stadt vermitteln sollen: der Brauer, der hier 1842 das Pilsener Urquell erfand, ein Arbeiter der Skoda-Werke oder ein zwölfjähriges Mädchen, das Pilsen aus Kindersicht zeigt. Das Ziel: Die Figuren führen Touristen in verschiedene Stadtteile, deren Bewohner dann Einblicke in ihr Leben schenken sollen. Titel: „Skryte Mesto“, die versteckte Stadt.


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