Ein Avantgarde-Paar aus Polen
Das bewegte Bild
Die filmbegeisterten Künstler waren bereit, es mit allen Widrigkeiten aufzunehmen:
„In der Zlotastraße hatten wir unser Studio in einem kleinen Zimmer neben der Küche, in der Krolewskastraße hatten wir unser Studio im Schlafzimmer. In der Czeczotastraße hatten wir unser Schlafzimmer im Studio. Es waren [...] die Jugendjahre des Films, die erfüllt waren vom Kampf um ein Stück Negativ, um vorsintflutliche Apparate, um aus Stöcken zusammengebastelte Tricktische, um Leinwände in Kinos, um tausend Zoll- und Zensurzettel, die man sich hartnäckig erringen musste, um sich ja die Filme der westlichen Avantgarde anschauen zu dürfen, von der wir durch eine dicke Mauer getrennt waren.“
Adriana Prodeus: „Die Themersons. Biografische Skizzen”
Lesung in der deutsch-polnischen Buchhandlung Buchbund in Berlin am 13. Juni 2014, 19 Uhr
Als sie anfingen, gab es in Polen keine andere Filmtradition als die der billigen, kommerziellen Produktionen, die in den Kinos vorherrschten. Es war nichts da, an das man hätte anknüpfen, von dem man hätte lernen können. Dieser Zustand ermöglichte eine große künstlerische Freiheit, ließ viel Raum für Erfindergeist. Das Kino musste ganz von Null erschaffen werden.
Deshalb sucht Stefan in seinem Essay „Von der Notwendigkeit, Visionen zu schaffen“ die Anfänge des Films in der Urgeschichte. Er beruft sich auf eine Legende der Buschmänner:
„Meine Damen und Herren, Sie möchten wohl wissen, wer das Kino erfunden hat? Um bei der Wahrheit zu bleiben, ein Mann war es nicht. Es war ein Mädchen. Ein Mädchen aus einem früheren Volk, meine Damen und Herren. „Ein Mädchen aus einem früheren Volk nahm eine Handvoll glimmender Asche und warf sie in die Luft – und aus den Funken wurden Sterne“.
Die Himmelskuppel ist die Leinwand, und die Bewegung der Himmelskörper auf ihr ist das Urbild der Projektion, bei der Licht und Bewegung die dominierende Rolle spielen. Aber der Hauptschöpfer des Kinos ist nicht Gott, sondern der Zuschauer, der sich das Schauspiel ansieht: „Das Auge des Eskimos bewegt sich. Es bewegt sich in seiner Augenhöhle, dreht sich zusammen mit dem Kopf. Der Eskimo selbst ist der Regisseur seines Films. Er selbst wählt ihn aus einer unendlichen Vielzahl anderer Filme aus, er selbst schaut ihn an und schreibt eine Rezension.“
Die Erfahrung des Kinozuschauers ist das visuelle Erleben von Bewegung – wie ein Wachtraum. Sie wird mit dem Namen „Musik der Sicht“ bezeichnet:
„Sie [die Musik der Sicht] wurde nicht erfunden, sondern entdeckt. Zum ersten Mal entdeckte sie ein Passagier in einer Straßenbahn, der auf der hinteren Plattform stand und beobachtete, wie die Pflastersteine unter der Straßenbahn hervor in die Ferne glitten; es entdeckte sie vielleicht ein Passagier in der Eisenbahn, der vor dem Fenster die vorbeifliegenden Bäume und Telegrafenmasten und den rhythmisch auftauchenden und wieder verschwindenden Bogen der Stromleitungen sah.“
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes