Bosnien-Herzegowina

Weltkriegsspuren in Sarajevo

Eine türkische Reisegruppe läuft mit stampfenden Schritten über die Lateinerbrücke und vertreibt drei Straßenhunde, die es sich dort gemütlich gemacht hatten. Kurz nachdem die Touristen die Brücke überquert haben, deutet der Reiseleiter von der Fußgängerzone aus auf die Straße, formt mit der Hand eine Pistole und sagt: „Peng! Und dann kam der Erste Weltkrieg.“

An genau dieser Stelle in Sarajevo erschoss vor fast hundert Jahren, am 28. Juni 1914, der 19-jährige Gavrilo Princip den Thronfolger von Österreich-Ungarn Franz Ferdinand und dessen Frau Sophie aus nächster Nähe. Einen Monat später erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg, wie es einige aus der Führungsriege des k.u.k.-Reiches bereits lange geplant hatten. Der Angriff auf Serbien löste eine Kettenreaktion aus und führte innerhalb weniger Monate den ganzen Kontinent in den Krieg.

Am damaligen Tatort in Sarajevo befindet sich heute ein Museum, das sich dem Attentat widmet, aber auch dem Kulturleben, der Architektur und dem Widerstand während der österreich-ungarischen Besatzung der heutigen Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas von 1878 bis 1914.


Plötzlich kommen auch Touristen aus China und Südkorea

Dieses Jahr drängen sich besonders viele Besucher vor dem Gebäude. Alle 20 Minuten versammelt sich eine neue Reisegruppe an dem historischen Ort. Mit den Menschen wechseln auch die Sprachen: Englisch, Deutsch, Arabisch und Türkisch sind die häufigsten, in den vergangenen Jahren kamen auch andere hinzu. Mirsad Avdic, der Kurator des Museums, sagt: „Dieses Jahr haben wir sehr viele Gäste aus China und Südkorea, das hat uns sehr überrascht. Aus Ungarn, Deutschland und Österreich kommen im Jubiläumsjahr mehr Touristen als in den Jahren zuvor, aber der erwartete Ansturm ist ausgeblieben.“


WEITERFÜHRENDE INFORMATIONEN

Museum von Sarajevo:
Das Museum besteht aus sechs Teilmuseen: Museum von Sarajevo 1878-1918 (Zelenih Beretki 1, direkt nach der Lateinerbrücke, an dem Ort von dem aus Gavrilo Princio geschossen hat), Brusa Bezistan (Urgeschichte bis 1878, Abadziluk 10), Jüdisches Museum (Velika Avlija BB), Svrzos Haus (osmanisches Haus aus dem 18. Jahrhundert, Glodina 8), Despic-Haus (Despica 2), Museum Alija Izetbegovic (Ploca). www.muzejsarajeva.ba/EN

Weitere Sehenswürdigkeiten:
Avaz Twist Tower: höchstes Gebäude Südosteuropas, mit Aussichtsplattform (Tesanjska 24a). www.avaztwisttower.ba

Hotel Europa: einst Grenze zwischen Osmanischem Reich und Österreich-Ungarn. Neben dem Hotel Ausgrabungen von Teilen des historischen osmanischen Viertels (Vladislava Skarica 5). www.hoteleurope.ba


Das Erbe Österreich-Ungarns in Sarajevo ist vor allem ein architektonisches. Das Wahrzeichen der Stadt, die Stadthalle Vijecnica, wurde in dieser Zeit errichtet und viele repräsentative Institutionen sind in Gebäuden untergebracht, die unter die Habsburgermonarchie erbaut wurden. In der kollektiven Erinnerung präsent sind diese Zeit und der Erste Weltkrieg aber kaum. Ganz anders verhält es sich mit dem letzten Krieg, der die Stadt in den 1990er Jahren heimsuchte.

Sarajevo liegt in einem Kessel, umgeben von Bergen. Die alten Wohnviertel, Mahalas genannt, liegen auf den Hügeln über der Innenstadt. Von dort aus hat man die Aussicht auf die gesamte Stadt: Das Hotel Europa teilt Sarajevo in die osmanische Altstadt Bascarsija und das österreichisch-ungarisch geprägte Geschäftszentrum. Dahinter zeugen sozialistische Blockbauten von der Ära Jugoslawiens und der 2009 fertig gestellte Avaz Twist Tower, das höchste Gebäude auf dem Balkan, vom unabhängigen Bosnien-Herzegowina.

Die Geografie des Talkessels prägt das Bewusstsein der Bewohner Sarajevos – und wurde ihnen im April 1992 zum Verhängnis. Scharfschützen postierten sich auf den Bergen, knapp vier Jahre lang belagerten die Streitkräfte der Republika Srpska die Stadt. Mehr als zehntausend Menschen, darunter rund 1.600 Kinder, fielen Scharfschützen und Artilleriebeschuss zum Opfer, mehr als 50.000 Einwohner wurden während der Belagerung verwundet. Bei jedem Spaziergang erinnern heute die „Rosen von Sarajevo“, von Künstlern mit blutrotem Harz aufgefüllte Granateneinschläge im Asphalt, an die Opfer der Belagerung. An vielen Häusern sieht man bis heute Einschusslöcher.

Sarajevo büßte nach dem Krieg einen Teil seiner Multikulturalität ein, die die Stadt seit ihrer Gründung durch das osmanische Reich im Jahr 1461 geprägt hatte. Heute leben deutlich weniger Serben, Kroaten und Juden in der Stadt als vor dem Bosnienkrieg. Trotzdem wird Sarajevo noch immer seinem Beinamen „Jerusalem des Balkans“ gerecht: Der Gesang des Muezzins und das Läuten der Kirchenglocken wechseln sich ab. Auf der Bascarsija, dem Hauptplatz der Altstadt, fliegen Tauben um bosniakische, serbische, iranische und türkische Geschäfte.


War Gavrilo Princip ein Held oder ein Terrorist?

Doch im Vielvölkerstaat Bosnien-Herzegowina schwelt der Streit um die gemeinsame Identität und insbesondere über die Interpretation der Geschichte. Jede der drei Volksgruppen – Bosniaken, Kroaten und Serben – druckt ihre eigenen Schulbücher, in denen sie jeweils ihre eigene Sicht der Geschichte präsentiert. Der Auslöser des Ersten Weltkriegs spielt dabei eine wichtige Rolle: „Hier werden Polemiken darüber geführt, ob Gavrilo Princip ein Held oder ein Terrorist war“, sagt Museumskurator Mirsad Avdic.

Viele Serben verklären den Attentäter von Sarajevo als serbischen Nationalisten, der für das Wohl des serbischen Volkes gekämpft habe, um seine Landsleute in Bosnien von der Kolonialmacht Österreich-Ungarn zu befreien und einen südslawischen Staat unter serbischer Vorherrschaft zu errichten. Viele Bosniaken indes idealisieren die Zeit der Habsburgermonarchie, sehen sie als Wegbereiter für Fortschritt und Zivilisation und geben den „serbischen Terroristen“ eine Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Museumskurator Mirsad Avdic teilt keine dieser Interpretationen: „Es wäre allen hier geholfen, wenn wir die Geschichte als das nähmen, was sie ist, ohne sie zu verklären und Mythen um sie herum zu bauen.“ Er und sein Museum versuchten, die Geschichte gar nicht zu bewerten, sondern objektiv von ihr zu berichten.


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