Als in Polen die Mauer fiel
Was für die Deutschen der Fall der Berliner Mauer ist, sind für viele Polen die ersten teilweise freien Wahlen am 4. Juni 1989. Die polnische Regierung, aber auch ein großer Teil der Öffentlichkeit interpretiert das Ereignis als Fanal für den Zusammenbruch des gesamten Ostblocks – mit Polen und eben nicht mit Deutschland als Speerspitze.
Der Mauerfall sei nicht das entscheidende Ereignis beim Systemumbruch gewesen, sagt etwa Jacek Michalowski, Büroleiter von Staatspräsident Bronislaw Komorowski. „In der Zeit, als die Polen wählten, wurde an der DDR-Grenze noch auf Flüchtlinge geschossen“, betont auch der Politologe Michal Sutowski von der Nichtregierungsorganisation Krytyka Polityczna.
Erinnerungsfeier mit Obama und Gauck
Wie bedeutend das Ereignis nicht nur für Polen ist, zeigen die Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag am heutigen Mittwoch. An der zentralen Feier in Warschau nehmen auch US-Präsident Barack Obama, Bundespräsident Joachim Gauck und etliche andere Staatschefs teil.
Tatsächlich waren die ersten halbwegs freien Wahlen in Polen ein politischer Meilenstein. Die oppositionelle Solidarnosc, als Gewerkschafts- und Bürgerbewegung 1980 gegründet, gewann fast alle frei zu vergebenden Mandate. 65 Prozent der Sitze waren allerdings von vornherein der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei vorbehalten. Die Opposition besetzte so 165 der 460 Mandate im neuen Sejm, der ersten Parlamentskammer. Im Senat, der zweiten Kammer, konnte sie hingegen 99 von 100 Sitzen erobern.
Auch wenn die Kommunisten im neu gewählten „Vertragsparlament“ die Mehrheit stellten – ihre Machtgrundlage war erschüttert. Zwar wurde der vor wenigen Tagen verstorbene General Wojciech Jaruzelski im Juli 1989 von einer Versammlung aus Sejm und Senat mit knapper Mehrheit zum ersten Staatspräsidenten gewählt. Doch die Kommunisten schafften es nicht, eine Regierung zu stellen. So bildete der Oppositionspolitiker Tadeusz Mazowiecki als erster nichtkommunistischer Premier im Ostblock im August 1989 sein Kabinett. Im Oktober 1991 gab es erstmals vollständig freie Parlaments- und Senatswahlen.
Die Wahlen des 4. Juni werden heute von der Mehrheit sehr positiv gesehen – das, was danach kam, sehen viele kritischer: „Denn es ist eine Sache, ein wichtiges Geschichtsereignis zu feiern, und eine andere, unter all das seine Unterschrift zu setzen, was innerhalb der letzten 25 Jahre geschehen ist“, sagt der konservative Publizist Piotr Gociek.
Bereicherung, fehlende Verfolgung, Massenarbeitslosigkeit
Zu dem, was nach dem 4. Juni 1989 schief lief, zählen Kritiker etwa die Bereicherung ehemaliger kommunistischer Eliten bei der Privatisierung von Staatsbetrieben, die fehlende Verfolgung kommunistischer Verbrechen oder die radikal marktwirtschaftlichen Reformen, die zu einem massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit führten.
„Viele Reformen nach 1989, auch in der Wirtschaft, stehen aber nicht im Zusammenhang mit den Wahlen vom 4. Juni“, betont Politologe Sutowski. Es habe noch viel radikalere Pläne gegeben – und zwar in den Schubladen der Kommunisten. „Auch die Bereicherung der alten Eliten begann nicht 1989, sondern bereits Mitte der 1980er Jahre.“
Am heutigen Tag werden die Ereignisse von vor 25 Jahren als „Fest der Freiheit“ zelebriert – und als Beginn der Anbindung an den Westen. So werden Polens Präsident Komorowski und Bundespräsident Joachim Gauck die Autobahn A2, die Warschau und Berlin verbindet, gemeinsam den Namen „Autobahn der Freiheit“ verleihen.