Polen

Gebt uns eine Perspektive!

Vom Titelblatt einer bekannten Wochenzeitung sehen mich zwei ältere Herren an, zwei wichtige und angesehene Redakteure, die sich fürs Foto als Hipster mit Kapuzenpullis verkleidet haben. Ihre Fragen sind trotzdem ernst: „Was ist mit den jungen Leuten, denen wir die Arbeit weggenommen haben?“ und „Was ist mit denen, die nie die Spitze erklimmen, weil wir sie besetzt halten, weil – ja, eben – schon einer vor ihnen da war?“.

Ich weiß diese Geste der Selbstgeißelung zu schätzen. Aber diese Spitze, auf der kein Platz mehr ist, sie ist – im wahrsten Sinne des Wortes – die Spitze eines Eisbergs. Und dort will nicht jeder unbedingt hin. Die anderen interessiert ein viel kleinerer Mount Everest: die ganz normale, angemessene Festanstellung. Von ihr träumen möglicherweise die meisten jungen Polen und Polinnen.


Viele junge Polen arbeiten mit „Müllverträgen“

Ich möchte nicht, dass sich Redakteure und Journalisten von bekannten Zeitschriften oder Schauspielerinnen und Schauspieler selbst geißeln müssen, dass Stars uns bemitleiden. Ich möchte, dass eine feste Arbeit kein Traum bleibt, sondern Normalität wird.
Zur Zeit arbeiten die meisten meiner Altersgenossen – wenn überhaupt – auf der Basis von sogenannten „Müllverträgen“. Ein Müllvertrag ist ein Vertrag mit kurzer Kündigungsfrist, ohne Beitrag zur Kranken- und Arbeitslosenversicherung, ohne Garantie auf eine angemessene Rente, ohne Aussicht auf ein besseres Beschäftigungsverhältnis – sondern im Gegenteil: Ein Vertrag, der die Unsicherheit einer vorläufigen Anstellung, einer Probezeit ins Unendliche zieht.

Über die Hälfte der Personen, die vor sechs Jahren „vorläufig“ angestellt waren, arbeitet heute noch zu denselben Bedingungen. Wie lange dauert dann also diese „Vorläufigkeit“? Dieses unsichere Beschäftigungsverhältnis wäre heute nicht die beliebteste Form der Anstellung, wenn es keine passenden Argumente dafür gäbe, auf diese Weise mit jungen Menschen umzugehen. Das heißt: mit meiner ganzen Generation.

Und diese Argumente haben – leider – europäische Wurzeln. Angeblich geht es dabei um Flexibilität, um Modernität, um die Anpassung an europäische und globale Standards, um Wettbewerbsfähigkeit und Innovation. Diese ganzen schönen Worte werden heute benutzt, um uns weiszumachen, unsichere Beschäftigungsverhältnisse, Jugendarbeitslosigkeit, die Prekarisierung ganzer Berufe und Branchen, das Abrutschen Intellektueller in die Armut seien eben die europäische Kost, auf die wir vor zehn Jahren umgestiegen sind.

Irgendetwas ist schiefgegangen

Sollte es nicht eigentlich umgekehrt sein? Stand Europa nicht für bessere Bezahlung, bessere Arbeit und bessere Perspektiven, nach denen wir streben und die unser Wegweiser sein sollten? Hatten wir uns nicht einem Klub von Ländern mit starker Mittelschicht, mit Gewerkschaften, die sich nicht in die Suppe spucken lassen, und mit einem guten Sozialsystem anschließen sollen?

Irgendetwas muss unterwegs schiefgegangen sein, da wir heute nicht von europäischer Stabilität und Sozialversicherungen sprechen, sondern von der innereuropäischen Konkurrenz, der wir uns entgegenstellen müssen. Das können wir, indem wir das Letzte, was wir besitzen (außer der Kohle, die keiner mehr will), in die Waagschale werfen: billige Arbeit.

Im Laufe dieser zehn Jahre sind Millionen weggegangen, und Millionen sind geblieben – um denselben Mechanismus zu verstärken: Kostenbeschneidung, Gewinnmaximierung, Marktöffnung. Man beschneidet also die Kosten aufseiten der Arbeitnehmer, maximiert die Gewinne aufseiten der Unternehmer, und öffnet und belebt die Märkte, wenn auch komischerweise nie da, wo Steuern gezahlt werden.


Millionenteure Stadien werden von meiner Generation geputzt

Ich möchte, dass wir jetzt wenigstens in dieser Frage Vernunft annehmen. Und da die Sprache, die das möglich gemacht hat, aus Europa gekommen ist, sollten auch die Reparaturwerkzeuge aus Europa kommen. Ein gemeinsames Recht zur Regelung der Beschäftigungsverhältnisse, gemeinsame Arbeitsstandards, ein Lohndumping-Verbot, Beschränkungen von Offshoring und Outsourcing, die den inländischen Arbeitnehmern schaden – diese Dinge kommen einem als Erstes in den Sinn.

Aber nicht nur das, denn wir müssen uns endlich von der naiven Vorstellung lösen, „Flexibilität“ und „Innovation“ hießen immer ein und dasselbe und seien Vorboten einer besseren Lage für alle. Denn das sind sie nicht. Wenn wieder einmal eine Milliardenförderung an den Bau eines Stadions geht, das später von meinen Altersgenossen für Minilöhne geputzt wird – denn darauf, die Milliarde in sie zu investieren, kommt ja keiner – sollten wir als Gesellschaft „Stopp“ sagen. Eine unterbezahlte, von Zukunftsangst geplagte und größtenteils beschäftigungslose Generation ist kaum ein Anzeichen für Entwicklung, sondern eher für einen Aufstand.


Arbeit statt Prestige

Ich möchte, dass das nächste Jahrzehnt kein weiteres Jahrzehnt dieser Entwicklung wird – kein Jahrzehnt der prestigeträchtigen Investitionen, die nicht für Arbeit im Inland sorgen. Dass es kein Jahrzehnt der Springbrunnen und Aquaparks wird, sondern ein Jahrzehnt weniger augenfälliger Veränderungen, die denen Stabilität geben, die der Blutkreislauf der heutigen Wirtschaft sind und dank deren schlechtbezahlter Arbeit es noch gerade gelingt, die gesellschaftlichen Kosten dieser Krise zu vertuschen. Dass es nicht mehr möglich sein wird, eine Milliarde auszugeben, ohne nach der Perspektive der Menschen zu fragen, deren Schicksal der EU-Beitritt auf magische Weise hätte verändern sollen.

Dass es nicht einmal mehr möglich sein wird, die Hand nach der nächsten Milliarde auszustrecken, wenn man vorhat, sie zu fressen und die Krümel von der nächsten besser denn je ausgebildeten Generation dreisprachiger Putzfrauen und -männer beseitigen zu lassen. Ich möchte, dass niemand mehr auf solche Ideen kommt, selbst wenn er vorhat, sich nachher für sie zu entschuldigen. Denn es sind nicht die zwei älteren Redakteure, wegen denen wir keine Arbeit haben.

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes

Das wollen andere Osteuropäer von Europa


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