Polen

Stimmenfang im Schatten der Ukraine-Krise

Überraschend erscheint Jaroslaw Kaczynski, Chef der größten polnischen Oppositionspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), auf einem Wahlkampftermin im südpolnischen Industrierevier Oberschlesien. Es geht um die Zukunft der rund 100.000 Kohlekumpel in der Region.

Die Bergbauunternehmen ächzen unter den niedrigen Weltmarktpreisen, viele rechnen mit Massenentlassungen. „Das können wir auf keinen Fall zulassen“, sagt Kaczynski vor der Grube „Wujek“. Der Ort ist geschichtsbeladen, kurz nach Ausrufung des Kriegsrechts im Jahr 1981 waren dort protestierende Bergarbeiter getötet worden. „Heute schießt die Regierung zwar nicht, aber sie nimmt den Menschen das Recht auf Arbeit, sie betrügt die Bürger“, ruft Kaczynski in die Menge.

Die Revierreise des PiS-Chefs ist symptomatisch für den Wahlkampf in Polen zur Europawahl am 25. Mai: Das Thema EU spielt auch in seiner Ansprache nur am Rande eine Rolle. Kaczynski geht es darum, die Regierung Donald Tusk endlich mit einem innenpolitischen Thema zu packen.


Ukraine könnte Rennen zwischen PO und PiS entscheiden

Denn seit sich die Ukraine-Krise zuspitzt, steigen die Zustimmungswerte für Tusks regierende Bürgerplattform (PO) laut dem Meinungsforschungsinstitut Homo Homini von 22 Prozent im Februar auf 29 Prozent im Mai. Glaubt man den Umfragen, so dürfte es ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen PiS und PO geben – und das Thema Ukraine womöglich wahlentscheidend sein.

Denn mehr als 60 Prozent der Bürger glauben, die Ukraine-Krise gefährde die Sicherheit Polens. Tusk greift dies im Wahlkampf immer wieder auf, schürt aber auch selbst Kriegsängste.

„Die Frage ist nicht, ob am 1. September sechs- oder siebenjährige Kinder in die Schule gehen“, sagte Tusk auf einem Parteikonvent im März in Anspielung auf eine anstehende Bildungsreform. „Die Frage ist, ob am 1. September überhaupt Kinder zur Schule gehen werden.“


Tusk profiliert sich mit „Energie-Union“ ohne russisches Gas

Im Windschatten der Krise profiliert Tusk sich zudem mit Ideen zur Schaffung einer „Energie-Union“ in der EU, die die Abhängigkeit von russischem Gas verringern soll.

Der nationalkonservativen PiS fällt es sichtlich schwer, Kapital aus der Krise im Nachbarland zu schlagen. Zunächst erinnerten Jaroslaw Kaczynski und seine Partei immer wieder daran, dass der 2010 verunglückte Präsident Lech Kaczynski die Krise in der Ukraine lange vorausgesehen habe.

Nun fordert die Partei harte Sanktionen gegen Russland, zeigt sich solidarisch mit der Ukraine. Doch eine gute Woche vor der EU-Wahl gestand Kaczynski ein: „Wir kämpfen hart, um diese Wahlen zu gewinnen, auch wenn uns die Ukraine die Möglichkeit zu einem vernichtenden Sieg genommen hat.“

Die Ukraine ist eines der wenigen Themen mit EU-Bezug, die im polnischen EU-Wahlkampf eine Rolle spielen. Denn die Wähler interessieren sich wenig für Europa, die Wahlbeteiligung dürfte unter 30 Prozent liegen. Und so stehen neben der Ukraine-Krise ausschließlich innerpolnische Probleme im Vordergrund.

„Wähler, mit denen ich spreche, klagen über viel zu niedrige Einkommen oder zu wenige Kitaplätze. Etliche erwägen ernsthaft, aus Polen auszuwandern“, sagt Halina Sobanska, Kandidatin der Allianz der Demokratischen Linken (SLD) in Oberschlesien.

Was die EU betrifft, sähen die Wähler vor allem die Ungleichgewichte innerhalb der Union. „Wenn wir schon in der EU sind, sagen sie, dann sollten auch die Einkommen denen anderer EU-Staaten angeglichen werden“, so die Politikerin.


„Brüssel erscheint wenig greifbar und weit entfernt“

Wählerin Agnieszka Rabijasz betrachtet die EU mit etwas größerem Wohlwollen. Die Ärztin will unbedingt wählen gehen, versteht ihre wahlunwilligen Landsleute aber auch: „Auch mir erscheint Brüssel wenig greifbar und weit entfernt von meinem Leben. Das eigene Hemd ist den meisten wohl am nächsten.“ Bei ihrer Stimmabgabe orientiert sie sich nicht an Parteien und Programmen, sondern an Personen. „Es müssen Kandidaten sein, die über politische Erfahrung verfügen und sich bewährt haben“, sagt sie.

Der Favorit der jungen Medizinerin heißt daher Jerzy Buzek. Der ehemalige polnische Premierminister und Ex-Präsident des EU-Parlaments stammt wie Rabijasz aus der südpolnischen Industrieregion Oberschlesien. Dort hält in er den ersten Listenplatz der Bürgerplattform. Buzek wird mit großer Wahrscheinlichkeit erneut ins EU-Parlament einziehen, bei den letzten EU-Wahlen 2009 erhielt er die Rekordzahl von fast 400.000 Direktstimmen.

Den populären Politiker auf Wahlkampfveranstaltungen aufzuspüren, ist jedoch schwer. Der 73-Jährige zeigt sich lieber bei prestigeträchtigen Ereignissen wie Anfang Mai auf dem Europäischen Wirtschaftskongress in Katowice. Natürlich bietet auch dort die Ukraine Diskussionsstoff – etwa im Plenum „Gemeinsamer Energiemarkt der EU“.

„Die Barriere für die Schaffung der Energie-Union ist nicht die EU, es sind die Mitgliedsländer“, sagt Buzek dort. Er spielt damit auch auf Deutschland an, das seine relativ günstigen Gaspreise bei Gazprom nicht durch gemeinsame Einkäufe aufgeben möchte.

Dass Polen bestimmte Probleme nur auf EU-Ebene lösen kann, erkennt inzwischen auch die euroskeptische PiS an. Boleslaw Piecha, Spitzenkandidat der Partei in Oberschlesien und Buzeks direkter Kontrahent, findet erstaunlich EU-freundliche Worte. „Wir dürfen die EU nicht als Sparbüchse sehen, denn in Zukunft wird Polen anderen Staaten helfen müssen – an diesem Bewusstsein müssen wir arbeiten“, sagt der 59-Jährige am Rande des Wirtschaftskongresses.


Auch Eurospektiker sind dankbar für Sicherheit dank EU

Die Generalkritik an der EU kommt längst von einer anderen Seite – erfolgversprechend ist sie weiterhin: In nur wenigen Monaten schaffte es die rechtspopulistische und radikalliberale Partei Kongress Neue Rechte (KNP) in den Umfragen von zwei auf sieben Prozent – Tendenz steigend. Ziel der Partei ist laut Programm „die Liquidierung der EU“ durch eine Reduzierung auf einen Freihandelsraum.

„Die EU bedeutet für uns Sozialismus“, sagt Janusz Maciejewski von der KNP in Oberschlesien. Er glaubt, dass Polen hätte seinen beeindruckenden Wirtschaftsaufschwung der letzten zehn Jahre auch ohne die EU-Mittel erreicht hätte.

Gleichwohl räumt Maciejewski ein: „Die EU-Mitgliedschaft hat die Sicherheit unseres Landes erhöht“ – und meint damit den direkten Vergleich mit dem krisengeschüttelten Nachbarn im Osten. Selbst jene, denen EU-Skepsis normalerweise als Programm reicht, kommen in diesem Europawahlkampf nicht an der Ukraine vorbei.


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