Lettland

Europawahlkampf auf Russisch

Die Abgeordnete Tatjana Zdanoka kämpft um ein neues Mandat im Europaparlament. Heute besucht sie Abiturienten in einer russischen Schule in der lettischen Hauptstadt Riga. Jeder Dritte in Lettland hat russische Wurzeln. Im Zuge der sowjetischen Siedlungspolitik waren im Kalten Krieg hunderttausende Russen nach Lettland gekommen. Auch Zdanokas Vater wurde 1949 mit der Roten Armee in der damaligen Sowjetrepublik Lettland stationiert, sie selbst machte sich 1990 gegen die lettische Unabhängigkeit von Moskau stark.

Heute lebt in Lettland eine zweigeteilte Gesellschaft: Die Russen haben eigene Schulen, Fernsehsender und Zeitungen. Seit der Ukrainekrise werden die Parallelwelten von Russen und Letten in der Baltenrepublik besonders sichtbar. Den Konflikt in der Ukraine versteht Tatjana Zdanok als Reaktion auf eine nationalistische Politik. Die Aggressionen seien entstanden, weil die russischsprachigen Ukrainer wie Bürger zweiter Klasse behandelt würden, meint die EU-Abgeordnete. Und hier sieht sie durchaus Parallelen zu Lettland. Alles hänge davon ab, wie gut Lettland seine russische Minderheit behandle, sagt Zdanoka.


280.000 „Nichtbürger“ ohne Pass

Wer Staatsbürger werden will, muss in Lettland eine Prüfung auf Lettisch ablegen. Tatjana hat sie bestanden, ohne lettischen Pass hätte sie nicht Abgeordnete im EU-Parlament werden können. Weil viele Russen den Test aber nicht schaffen oder ihn gar nicht erst machen, sind rund 280.000 von ihnen bis heute sogenannte „Nichtbürger“ ohne lettischen Pass.

Dabei hatte die sogenannte „Volksfront“, die Ende der 1980-er Jahre um Lettlands Austritt aus der Sowjetunion kämpfte, jedem Einwohner unabhängig von seiner Herkunft gleiche Rechte in Aussicht gestellt, erinnert sich Zdanoka. „Aber in der Unabhängigkeitserklärung von 1990 war keine Rede mehr davon. Die sowjetische Ideologie sollte durch einen neuen Nationalismus ersetzt werden.“

Im Europaparlament setzt sich Tatjana Zdanoka seit 2004 für die Rechte der russischen Minderheit in Lettland ein. Hier hat die 64-Jährige durchgesetzt, dass die russischen sogenannten „Nichtbürger“ ohne Visum in andere EU-Staaten reisen dürfen. Sie meint, dass es angesichts der Ukrainekrise in Lettland ruhig bleiben werde, wenn den Russen im Land endlich die Staatsbürgerschaft geschenkt werde.


Ihre Zukunft sehen auch die Russen in Lettland

Auch die lettische Abgeordnete Sandra Kalniete macht Wahlkampf – in einer lettischsprachigen Schule. Die 62-Jährige wurde in sowjetischer Verbannung geboren und hat 1990 für Lettlands Unabhängigkeit gekämpft. Die lettischen Schüler haben Fragen zur Ukrainekrise. Die Ukraine sei nicht so weit entfernt von Lettland, sagt die 18-jährige Linda. „Deshalb habe ich Angst. Wir müssen Lettland vor Russland beschützen.“ Aber zum Glück sei Lettland in der EU, fügt ihre Klassenkameradin Anete hinzu. „Wir hoffen, dass uns die anderen Staaten helfen, falls Lettland angegriffen wird.“

Lettland ist seit zehn Jahren EU- und Nato-Mitglied. Russlands Aggression und die Annexion der Krim habe die europäische Ordnung aus dem Gleichgewicht gebracht. „Wir erleben die erste große Bedrohung seit dem Zweiten Weltkrieg“, sagt Sandra Kalniete. „Ich hoffe, dass EU und Nato künftig in der Verteidigungspolitik enger zusammenarbeiten.“


Hoffen auf die Nato

Auch die russischen Schüler treibt die Frage nach Sicherheit um. Angst vor Russland haben sie allerdings nicht. In Lettland gebe es schließlich keine prorussischen Separatisten, sagt der 18-jährige Dima. Umfragen zufolge wollen die „lettischen Russen“ nicht nach Russland. Er sehe seine Zukunft in Lettland, pflichtet der 18-jährige Juri bei. „Was sollen wir in Russland? Wir leben in der EU, Lettland ist unsere Heimat.“

Auch die lettische EU-Kandidatin ist von der Loyalität der Russen in Lettland überzeugt. Aber Russland vertrauen, das könnten Europa und die Nato nicht, sagt Sandra Kalniete. Vor wenigen Tagen hatten die baltischen Staaten Estland, Litauen und Lettland eine dauerhafte Stationierung von Nato-Truppen auf ihrem Territorium gefordert. Aus Rücksicht auf Russland hatte die Nato sich dagegen bislang gewehrt. „Aber mit Blick auf die zugespitzte Lage wird Berlin vielleicht verstehen, dass wir mit Russland nicht mehr so zusammenarbeiten können wie bisher.“


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