Ukraine

Donezk stimmt für die Unabhängigkeit

Viktor Petrotschenko ist froh, als er das Wahllokal Nummer sieben gefunden hat. Eilig erklimmt er die Stufen zu dem zweistöckigen Ziegelgebäude. „Ich stimme heute für den Donbass“, sagt er. Der 62-jährige frühere Bergmann ist am Sonntag früh aufgestanden. Er hat sich seine schöne schwarze Hose und ein weißes Hemd angezogen, das rotblonde Haar mit Pomade zurückgekämmt. Als er aus der Wahlkabine tritt, ist er erleichtert.

In dem Wahllokal Nummer sieben, das in einer Schule untergebracht ist, ist der Andrang groß. In der Eingangshalle haben sich bereits morgens Schlangen vor der Registrierung gebildet. In den beiden durchsichtigen Urnen liegen Dutzende Stimmzettel, die meisten davon nicht einmal zusammengefaltet, das Kreuz unter dem „Da“ – „Ja“. „Unterstützen Sie den Akt über die Unabhängigkeit der Donezker Volksrepublik“ steht in Russisch und Ukrainisch geschrieben, und für diejenigen, die heute hier herkommen, ist die Wahl klar.


Keine Listen, jeder kann sich registrieren

Pro-russische Aktivisten hatten am Sonntag im Gebiet Donezk, das sie selbst als „Donezker Volksrepublik“ bezeichnen, zur Abstimmung über die Unabhängigkeit des Donbass aufgerufen. Aus der selbst erklärten Führung, die sich in dem Gebiet seit Wochen blutige Gefechte mit ukrainischen Truppen liefert, soll eine rechtmäßige Vertretung werden – legitimiert durch das Votum des Volkes.

400 bis 500 Bürger hätten innerhalb der ersten Stunde abgestimmt, erklärt die Leitung der Wahlkommission. Bis 22 Uhr abends hat das Lokal geöffnet, wie 1.200 andere im Gebiet. Ein offizielles Ergebnis wird erst am Montag erwartet. Dass bei der Abstimmung die Unterstützer der Unabhängigkeit in der Mehrheit sind, daran gibt es wenig Zweifel. Die anderen Bürger, die für die territoriale Einheit der Ukraine eintreten, beteiligen sich dem Vernehmen nach kaum an der Abstimmung. Sie betrachten das Referendum, wie die internationale Gemeinschaft auch, als nicht legitim.

Der Chef der Zentralen Wahlkommission, Roman Ljagin, rechnete vorab mit einer Wahlbeteiligung von 70 Prozent. Doch wie viele der knapp 3,2 Millionen Wahlberechtigten tatsächlich an der Wahl teilgenommen haben, lässt sich kaum sagen. Die verwendeten Wählerlisten stammen aus dem Jahr 2012.


Der Traum von der Unabhängigkeit

In einigen Lokalen lagen keine gedruckten Listen vor. Die Wähler wurden nach Nennung des Wohnorts an Ort und Stelle registriert. Bewaffnete Männer patrouillierten in manchen Wahllokalen. Auch eine geheime Abstimmung war nicht überall möglich: In zwei Wahllokalen in der Stadt Makeewka stimmten die Menschen vor den Augen der Wahlkommission ab. Man habe kein Geld für Wahlkabinen gehabt, sagt Jewgenij Petrowitsch, einer der Organisatoren. Internationale Beobachter waren nicht zugelassen.

In den vergangenen Tagen hatte die Führung der „Donezker Volksrepublik“ die Werbemaschine angeworfen: Der lokale TV-SEnder machte Stimmung für das Votum, man verteilte Flugzettel und informierte die Bürger über den Ort ihres Wahllokals. Auf den großen Ausfallstraßen Donezks hängen improvisierte Plakate mit einer einfachen Losung: „Unterstütze die Unabhängigkeit!“

Wie so viele hier träumt Viktor Petrotschenko von einem unabhängigen Donbass. „Wir wollen unser Geld nicht länger nach Kiew schicken, sondern es selbst verwenden“, sagt er. Wie vielen hier geht es ihm um die Hoheit über Abgaben und Finanzen, die Verbesserung der Lebensbedingungen der lokalen Bevölkerung und um ökonomische Sicherheit. Das bedeutet im Donbass: um den Erhalt der Schwerindustrie, die nicht nur Identität dieser ostukrainischen Region stark geprägt hat, sondern auch der Mehrheit der Bevölkerung das wirtschaftliche Überleben sichert.

Der 62-Jährige hat bisher die Partei der Regionen gewählt, deren Abgeordnete die Interessen der Region in Kiew vertreten sollten. Doch häufig haben sie einfach ihre eigenen Interessen vertreten, und auf das treue Wahlvolk der Industrieregion vergessen, hört man nun. Dass Expräsident Janukowitsch seine Macht letztendlich nicht gegen die Demonstranten vom Kiewer Maidan verteidigen konnte, verzeiht man ihm hier nicht. „Er hat uns verraten“, heißt es verächtlich.


Kein Vertrauen mehr in die Politik

Den Übriggebliebenen aus Janukowitschs Partei der Regionen vertrauen die Menschen nicht mehr. Ungleich attraktiver erscheint da die radikalere Richtung, die die Separatisten rund um den jungen Denis Puschilin einschlagen möchten: keine Gängelung mehr aus Kiew; Unabhängigkeit; vielleicht sogar Anschluss an Russland. An einem Dialog mit der neuen Führung zeigt keiner der Wähler Interesse, zumindest vorerst nicht. Und auch an den Präsidentenwahlen in zwei Wochen wollen viele teilnehmen. „Es gibt keinen vertrauenswürdigen Kandidaten“, sagt Petrotschenko. Es scheint unklar, ob die Wahlen im Gebiet Donezk überhaupt abgehalten werden können. Störaktionen sind zu erwarten.

Die Wähler, die gestern mit „Ja“ stimmten, wurden nicht an die Urnen geschleift. Man könnte die Abstimmung als Protest von Bürgern lesen, die sich bisher lieber von Oligarchen vertreten ließen. Das Modell ist missglückt. Der Maidan mit seiner Betonung von westlicher Demokratie und Marktwirtschaft ist keine Option für die Sowjetnostalgiker. Die Option des Ostens ist der Osten – der Donbass, später vielleicht Russland.

Anja Tscherkass, 29, sitzt vor dem Wahllokal Nummer sieben. Sie ist Akademikerin und arbeitet in einem Bergbaubetrieb als Wirtschaftsexpertin. Die junge Frau, bisher „unpolitisch“, hat ebenfalls für einen unabhängigen Donbass gestimmt. Es sei an der Zeit „ein Zeichen zu setzen“. Wo es genau hingeht, das werde man ja noch sehen.


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