Belarus

Eishockey-WM: Kein Fairplay mit Menschenrechten

„Woher ich die Kraft nehme? Welche Kraft? Es war die Angst um das Leben meines Kindes, die mich angetrieben hat.“ Ljubow Kowaljowa – zierlich, kurze Haare, ganz in Schwarz gekleidet – hält kurz inne und wischt sich die Tränen aus dem müden Gesicht.

Ihr Sohn Wladislaw Kowaljow wurde in einem international kritisierten Prozess zum Tode verurteilt, für die angebliche Beteiligung am Bombenanschlag in der Minsker U-Bahn im April 2011. Seitdem hat Ljubow Kowaljowa keine ruhige Minute mehr. Sie schrieb Gnadengesuche, Petitionen, reiste nach Straßburg und sprach vor dem Europarat, gab Interviews im Ausland, um internationale Öffentlichkeit zu schaffen. Alles vergebens. Im März 2012 wurde ihr 26-jähriger Sohn hingerichtet.

Bis heute weiß Ljubow Kowaljowa nicht, wo er bestattet ist. Sie hat die Hoffnung aufgegeben, es jemals zu erfahren. Angehörige werden in Belarus weder über den Termin der Hinrichtung informiert, noch wissen sie später, wo ihr Verwandter seine letzte Ruhestätte hat.

Nicht aufgegeben hat Ljubow Kowaljowa den Kampf für die Abschaffung der Todesstrafe in ihrem Land. Ende April kam sie im Rahmen des fünften Jubiläums der „Östlichen Partnerschaft“ nach Prag, eilte von einem Termin zum nächsten. „Ich kann nicht mehr anhalten. Ich habe das Gefühl, ich muss weitermachen, damit so etwas nicht wieder passiert“, betonte sie dort.


400 Hinrichtungen seit der Unabhängigkeit des Landes

An die 400 Todesurteile wurden nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Viasna seit 1991 in Belarus vollstreckt – stets per Genickschuss. Erst vor wenigen Wochen wurde der 23-jährige Pavel Selyun hingerichtet, obwohl der UN-Menschenrechtsausschuss die belarussischen Behörden aufgefordert hatte, das Todesurteil so lange nicht zu vollstrecken, bis er den Fall abschließend geprüft habe. Gegenwärtig droht nach Angaben von Amnesty International drei weiteren Verurteilten die Hinrichtung.

Vor Beginn der Eishockey-WM am Freitag haben mehrere Menschenrechtsorganisationen auf weitere massive Menschenrechtsverletzungen im Gastgeberland hingewiesen. So wurden laut Amnesty International in den vergangenen zwei Wochen 16 Aktivisten festgenommen. Amnesty fordert neben deren sofortiger Freilassung auch die Freilassung von neun langjährigen politischen Gefangenen, darunter Ales Bialiatski, Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Viasna.

Viasna hat in einem gemeinsamen Appell mit elf weiteren Organisationen vor der politischen Instrumentalisierung der WM durch das Lukaschenko-Regime gewarnt und die teilnehmenden Länder aufgerufen, keine politischen Delegationen nach Minsk zu schicken.


Appelle und Sanktionen lassen das Lukaschenko-Regime unberührt

Bislang lassen derartige Appelle das Lukaschenko-Regime unberührt. Auch die Sanktionen der Europäischen Union änderten daran nichts. Dennoch dürfe man den Druck aus dem Ausland nicht unterschätzen, sagt Andrej Paluba von Viasna. „Für das belarussische Regime spielt das eigene Image eine enorme Rolle. Und wenn vom Ausland permanent Kritik kommt, ist das störend.“ Daher seien Reaktionen von außen dringend notwendig. „Diktatorische Regime sind nicht so unbezwingbar wie sie scheinen“, so Paluba. „Manchmal reicht es, einfach am richtigen Stein zu rütteln und dann bricht das ganze Gebäude in sich zusammen – so wie die Berliner Mauer.“

Welches aber ist der richtige Stein? Weitere Sanktionen? Andrej Paluba ist sich nicht sicher. „Vielleicht muss man eine Balance finden zwischen Zuckerbrot und Peitsche“, überlegt er. „Und gleichzeitig den Bürgerrechtlern in Belarus Solidarität zeigen, denn das gibt uns die Kraft weiterzumachen.“

Für Ljubow Kowaljowa waren es die vielen Briefe aus dem Ausland und die Unterstützung durch Organisationen wie Amnesty International, die ihr diese Kraft gegeben haben. Sie ist überzeugt: „Stetes Wasser höhlt den Stein. Die Zeit wird kommen, wo es bei uns keine Todesstrafe mehr gibt.“

Solange bleibt Kowaljowa in Belarus. Emigration ist für sie ausgeschlossen. „In Belarus sind meine Eltern begraben. Irgendwo dort liegt mein Kind“, sagt sie mit brüchiger Stimme. „Es wäre einfacher, wegzugehen und alles zu vergessen. Aber wer bleibt dann da?“


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