„Wir müssen raus aus diesem Staat“
Früher einmal, sagt Galina, sei sie für eine unabhängige Ukraine gewesen. Das war vor 20 Jahren. Die Zeiten waren schlecht, als ihr Land die Unabhängigkeit erlangte. Galina, die ihren Nachnamen nicht nennen will, erinnert sich gut daran: 1991 wurde ihr Sohn geboren, da stand sie stundenlang Schlange vor den Geschäften. Heute steht Galina, schwarzer Pagenkopf, Jeanskleidung von Kopf bis Fuß, vor dem Bürgermeisteramt von Gorlowka und wirbt für den Anschluss der Ostukraine an Russland. "Russland ist unsere Heimat", sagt sie. Und die Ukraine? Diese Heimat habe sie verloren. In den 20 Jahren ist viel passiert. Kaum etwas ist besser geworden.
Galina ist eine von jenen, die in diesen Tagen die Besetzungen der öffentlichen Gebäude in der Ostukraine vehement verteidigen. Wäre sie ein Mann, sagt sie, dann würde sie mit den vermummten Burschen mit Kalaschnikows am Eingang des vierstöckigen Glas-Beton-Baus stehen. Gorlowka ist eine Stadt mit 260.000 Einwohnern, 40 Minuten von Donezk. Dmitrij Firtasch, der von den USA gesuchte ukrainische Gashändler, besitzt hier eine Fabrik, die den Namen "Stirol" trägt und chemische Stoffe herstellt. Gorlowka ist berühmt für seine schlechte Luft und den schwarzen Schnee. Viele leiden an Lungenkrankheiten. Seit dem Zerfall der Sowjetunion sind zehntausende Bewohner abgewandert. Durch Gorlowka führen kaputte Straßen, die Autofahrer verzweifeln lassen, und an ihrem Rand stehen abgewohnte Arbeiterunterkünfte.
In Janukowitsch sehen viele Ostukrainer einen Verräter
Galina und ihre Mitstreiter vor dem Amt sprechen alle von ähnlichen Dingen, die in der Ukraine schief laufen: Von den ungeliebten Oligarchen, denen die Städte hier gehören und die sich das Geld in die eigenen Taschen stecken; von den ihnen hörigen Politikern, wie auch Viktor Janukowitsch einer gewesen sei. Es waren die Ostukrainer, die ihn 2010 an die Macht gewählt haben. In Janukowitsch sehen jedoch heute viele einen Verräter. Und die neue Regierung in Kiew wollen sie nicht anerkennen, schließlich führe die einen Krieg gegen den Osten, gegen angebliche "Terroristen" - dabei seien sie doch nur eines: friedliche Bürger. Friedliche Bürger, die jetzt einfach mal zu den Waffen greifen müssten. "Wir können nicht mehr gemeinsam leben", sagt Galina. "Wir müssen raus aus diesem Staat."
Im Donbass kann man diese Überzeugung dieser Tage oft hören. In rund einem Dutzend Städte halten Aktivisten von so genannten Selbstverteidigungseinheiten Ämter und Polizeistationen besetzt. Zwischen den Ansiedlungen trifft man auf ihre Straßensperren, improvisierte Barrikaden aus Paletten, Reifen und Sandsäcken. Auch am Stadtrand von Gorlowka, unter dem englischsprachigen Willkommensgruß, stehen Barrikaden, daneben Zelte. In Gorlowka wurden erst vor ein paar Tagen das Bürgermeisteramt und eine Polizeistation besetzt. Der Bürgermeister, der 1981 geborene Jewgenij Klep, ist noch im Amt. Er verhalte sich "neutral", heißt es, deshalb darf er in sein Büro. Klep erklärte am selben Tag, dass ihm zuletzt per SMS mit Mord gedroht wurde, sollte er seinen Posten nicht aufgeben. Für die prorussischen Aktivisten ist er ein Anhänger der alten Macht, und in diesen Tagen nicht besonders beliebt. Für die Betroffenen gibt es zwei Optionen: der Bürgermeister arrangiert sich - oder er gibt sein Amt auf.
In Donezk besetzten am Donnerstag Demonstranten die Staatsanwaltschaft, weil diese mit Kiew "zusammenarbeite". Es gab mehrere Verletzte. Und in Slawjansk halten die Männer, die hier stets als "die Unsrigen" bezeichnet werden, das gesamte Zentrum kontrolliert. Übergangspräsident Alexander Turtschinow hatte vor zwei Tagen eingestanden, über den Osten die Kontrolle verloren zu haben. "Die Sicherheitsbehörden sind hilflos, und manche unterstützen die Terroristen oder kooperieren mit ihnen."
Autonomie, Unabhängigkeit, Anschluss an Russland – alles scheint möglich
Auch für Galina und die Unterstützer der "Volksrepublik Donezk" sind die Behörden in Kiew weit weg. Sie selbst war noch nie in der Hauptstadt, sie sei zu arm, sagt sie schulterzuckend. Dass die Feinde der russischsprachigen Bevölkerung und Schröpfer der Region in der Hauptstadt sitzen, davon ist sie überzeugt. Und wie viele andere will sie am Referendum teilnehmen, das am 11. Mai stattfinden soll. Das Referendum, mit dem sich die Volkrepublik Donezk legitimieren will, ist eine verworrene Sache. Wie es abgehalten werden soll, können selbst die Anhänger nicht sagen. Man habe genügend Experten, die Stadtverwaltung unterstütze die Aktivisten, man werde Wahllokale eröffnen, heißt es selbstbewusst. Wie das in der kurzen Zeit gehen soll, darauf entgegnet Aktivistin Tatjana Demtschinko, 42: "Wie auf der Krim." Es dürfte indes kaum gelingen, die Abstimmung in allen Orten der Region durchzuführen. Ohne Wählerlisten lässt sich keine seriöse Aussage über Wahlbeteiligung und das Ergebnis machen. Die Separatisten scheint das nicht zu beunruhigen. Sie setzen offenbar einfach darauf, mit einem Ergebnis ihre Position gegenüber Kiew stärken zu können. Und das Ziel? Eine autonome Republik, Unabhängigkeit, oder ein Anschluss an Russland - all das ist zu hören, all das scheint möglich.
In Gorlowkas Gorki Park, zehn Minuten vom besetzten Bürgermeisteramt entfernt, dreht das Karussell die Kinder im Wind, bunte Gasballone taumeln in der Luft, Zuckerwatte und Bier finden reißenden Absatz. Hier verbringen die Besucher einen unbeschwerten Feiertag, und die Meinungen über das Referendum sind nicht so einig wie bei den hartgesottenen Aktivisten: die einen werden abstimmen, andere belächeln die Initiative. Dann erschallt eine Mädchenstimme durch die Lautsprecher. Ein Lied in ukrainischer Sprache: "Es gibt nur eine Liebe deines Lebens", singt das Mädchen, "die Ukraine". Der Applaus ist verhalten.