Maidanopfer: „Ich bin kein Krieger“
„Ich bin kein Krieger. Und auch kein Kanonenfutter. Eigentlich bin ich ein apolitischer Mensch. Ich mag Politik nicht. Und ich bin auch nie wählen gegangen, weil sowieso alles vorher abgekartet ist. Aber unsere regierenden Politiker waren verrückt geworden. Sie trugen Armbanduhren für 150.000 Euro. Überall stahlen sie Geld und protzten voreinander damit, wer das teuerste Auto besaß. Das waren die Leute leid.
Am 14. Februar bin ich zum ersten Mal auf den Maidan gegangen, vier Tage vor der Nacht, in der ich angeschossen wurde. Ich ging aus Neugier. Ein Freund, der Journalist ist, nahm mich mit. Ich wollte wissen, wer hinter den Hundertschaften auf dem Maidan steht, wer sie finanziert.
Gewöhnliche Leute
Das waren zum Beispiel Geschäftsleute, die Läden für Militärbedarf besitzen. Von denen kamen die Helme, Gasmasken und Stiefel. Viele haben für den Maidan gespendet und brachten Essen. Die Alten, die den Krieg überlebt hatten, gaben ihre Rente von 100 Euro und sagten: „Kinder, Ihr müsst gewinnen!“ Da habe ich begriffen, dass keiner der Demonstranten auf dem Maidan wegen des Geldes dort war. Alles war selbst organisiert.
In der Hundertschaft, der ich mich anschloss, waren gewöhnliche Leute, ein Professor zum Beispiel, zwei Studentinnen, Menschen aus Lwiw, aus Ternopol. Militärs waren nicht dabei. Wir hielten auf dem Maidan Wache. Wir liefen über den Platz, um die Demonstranten zu verteidigen. Die Berkut-Truppen sollten nicht denken, dass wir völlig wehrlos seien.
In friedlichen Zeiten ist der Maidan ein sehr schöner Platz. Schon früher kam dort das Volk zusammen, wenn es etwas zu sagen gab. Zu Beginn der Demonstrationen im November kamen Studenten. An jenem Abend, am 18. Februar, war der Protest schon auf dem Höhepunkt angelangt. Da begann Berkut zu schießen.
Ganz vorne standen unsere Männer, die mit Metallschilden abschirmten. Ich stand hinter der ersten Reihe, einen Knüppel in der Hand, und wartete darauf, dass Berkut angreift. Zwischen uns und deren Truppen brannten Zelte und Gummireifen. Sie versuchten näher zu kommen und wir bildeten einen lebendigen Zaun. Hinter uns standen Frauen und Ältere, die gaben Flaschen und Pflastersteine nach vorne und warfen Molotowcocktails. Dahinter standen Babuschkas und beteten das Vaterunser. Eine Frau auf der Bühne sang „Herr, sei gnädig! Herr, sei gnädig!“
Die Berkutleute standen 20 Meter von uns entfernt. Es gab die „Guten“, die in die Luft schossen. Es gab die, die auf die Beine zielten, und es gab die Sadisten, die ins Gesicht zielten. Sie schossen auf Unbewaffnete.
Niemand, den ich auf dem Maidan kannte oder gesehen habe, hatte zu dem Zeitpunkt eine Schusswaffe. Die Aluminiumschilde, die wir hatten, schützen nur aus der Entfernung vor den Kugeln, aber nicht aus der Nähe. Sobald jemand getroffen war, zog ihn ein anderer von hinten heraus und jemand nahm seinen Platz in der Reihe ein.
Absichtlich ins Gesicht gezielt
Das alles war für mich so unwirklich. So ein Heldentum! Und niemand hat dafür auch nur eine Kopeke bekommen. Nur die Idee zählte.
Der Typ, der auf mich schoss, hat absichtlich in mein Gesicht gezielt, denn ich trug eine kugelsichere Weste und einen Helm. Ich habe mich gedreht. Deswegen hat er mich nur an der Seite erwischt.
Eigentlich sind die Kugeln, die mich trafen, ein Klacks. Die nimmt man für die Jagd auf Hasen oder Vögel. Aber wenn sie dich direkt ins Auge treffen, können sie dich töten. Oder wenn sie dich aus kurzer Distanz ins Herz treffen. Ein Mädchen, 27, bekam so ein Ding ins Auge. Jetzt liegt sie hier im Koma. Ich hatte Glück.
Als ich getroffen wurde, hörte ich plötzlich nichts mehr. Die Gasmaske war voller Blut. Jemand hat mir unter die Arme gegriffen und mich in das provisorische Krankenhaus gebracht. Ein Arzt nähte meine Wunden. Als ich wieder zu mir gekommen war, half ich, weitere Verletzte hereinzutragen.
Gennadij Midwitschuk, 47, wurde mit zwei Dutzend anderen Maidan-Opfern in eine deutsche Klinik gebracht. Drei
Kugeln holten ihm die Ärzte in Berlin aus dem Kiefer und der Schläfe
geholt. Midwitschuk hatte sich erst wenige Tage vor der Eskalation den
Maidan-Protesten angeschlossen. Er kommt aus Kiew und ist als Segelschiffkapitän regelmäßig in Europa unterwegs.
Seine Muttersprache ist Russisch.
Auf die Barrikaden draußen bin ich nicht mehr gegangen. Auch später nicht. Hätte ich in dieser Nacht eine Waffe gehabt, hätte ich wahrscheinlich geschossen. Dann hätte es den 20. Februar, an dem so viele Menschen starben, nicht gegeben.
Bereits am 19. Februar
begannen auch Demonstranten, sich zu bewaffnen. Einige Kalaschnikows und
Jagdgewehre tauchten auf. Da haben Berkut und die „Tituschki“, die für
Geld auf Janukowitschs Seite standen, Angst bekommen.
Ich denke, es
wäre ideal, wenn die Ukraine ein neutraler Staat mit europäischer
Ausrichtung wäre. So denken viele Ukrainer. Ein Land, wo man russisch,
ukrainisch und tatarisch sprechen kann – ganz, wie man will. Ein Land,
wo Gesetze die Menschen schützen und nicht der Stärkere gewinnt.
Soll sich Russland die Krim holen
Wo wir gut mit Russland und gut mit Europa leben. Aber die Gesetze müssen europäisch sein, nicht russisch. Ich will keinen Krieg mit Russland. Soll sich Russland die Krim und den Osten holen, dann wird die Ukraine eben kleiner. Aber es wird unsere sein!
Wenn die Menschen in der Ukraine nicht weiter für Veränderung einstehen, werde ich auch nicht weiterkämpfen. Dann wandere ich aus. Ich habe in den 1990er Jahren lange in Ungarn gelebt und einen ungarischen Pass. Deswegen kann ich auch nicht zur Wahl am 25. Mai gehen. Aber ich stifte alle meine Freunde an, zu wählen. Alle!
Ich bin für Anatolij Gritsenko. Der war einmal Verteidigungsminister. Er gehört zu keiner der bekannten Oppositionsparteien. Er will die Bevölkerung bewaffnen, damit sie sich selbst verteidigt. Und er will die Auswanderung stoppen. Vor allem muss Europa all die Prozesse, die jetzt in der Ukraine stattfinden, genau kontrollieren. Und zwar jede Minute. Sonst ist bald alles im Arsch.“