Bosnien-Herzegowina

Die Bürger reden mit

Etwa 150 Bürger haben sich vor dem „Haus der Jugend“ in Sarajevo versammelt, sie strecken ihre Mittelfinger in die Höhe und skandieren: „Die Politik ist eine Hure.“ Die Geste richtet sich gegen den Kanton Sarajevo, der nicht mehr bereit ist, den Demonstranten das Gebäude für ihre Bürgerforen zur Verfügung zu stellen. Die finden nun vor der Halle statt.

Eigentlich steht beim heutigen Bürgerforum das Gesundheitssystem auf dem Programm, aber viele Teilnehmer nutzen die Gelegenheit, um ihrem Ärger Luft zu machen. Ein junger Mann steigt auf die Bühne, hält in seiner erhobenen Hand einen Bußgeldbescheid und erklärt: „Dieses Stück Papier werde ich meinem Sohn geben. Er lernt gerade malen und kann damit viel mehr anfangen als ich.“


Die Arbeitslosenquote liegt bei 45 Prozent

Der Mann erzählt weiter, dass er Bußgeld in Höhe von 360 Euro zahlen musste, weil er auf einer Wahlkampfveranstaltung geschrien hatte: „Diebe, gebt uns unser Geld wieder!“ Für viele Menschen in Bosnien-Herzegowina liegt diese Summe über ihrem Monatsgehalt – wenn sie denn eines beziehen. Die Arbeitslosenquote liegt bei 45 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei 60 Prozent.

Nach den Redebeiträgen formuliert das Plenum dann doch konkrete Forderungen: Innerhalb eines Monats soll die Gesundheitsversorgung für alle Bürgerinnen und Bürger Sarajevos sichergestellt werden und zwar auf europäischem Niveau und unabhängig von Herkunft und finanziellen Grundlagen.

Bürgerforen wie diese finden auch in anderen Städten Bosnien-Herzegowinas statt. Sie sind aus den gewaltsamen Protesten Anfang Februar hervorgegangen. Bei den Ausschreitungen wurden die Sitze der Kantonsregierungen und Archive in Sarajevo und Tuzla sowie die Büros der nationalistischen Parteien in Mostar, der kroatischen HDZ und der bosniakischen SDA, in Brand gesteckt.

Nach diesem kurzen Aufflammen der Gewalt fanden sich die Bürgerinnen und Bürger friedlich zusammen. In Sarajevo, Tuzla, Zenica und Bihac traten daraufhin die Kantonsregierungen zurück, allesamt Regionen mit einer bosniakischen Bevölkerungsmehrheit. Auf die serbisch und kroatisch dominierten Teile des Landes sind die Proteste kaum übergegangen, dabei stehen die Menschen dort vor den gleichen Problemen.


Erstmals geht die Politik auf Forderungen von Demonstranten ein

Es ist das erste Mal in der Geschichte des jungen Staates, dass die Politik auf Forderungen von Demonstranten eingeht: In Tuzla hat sich eine neue Regierung formiert, deren Mitglieder entweder keiner Partei angehören oder ihre Mitgliedschaft derzeit ruhen lassen. Dies war eine Hauptforderung der meisten Bürgerforen.

In anderen Kantonen konnten sich die Demonstranten nicht durchsetzen. Auch stößt die Forderung nach einer Senkung von Beamtengehältern nicht bei allen auf Gegenliebe. Aufgrund des mangelnden Sozialsystems sind viele Menschen auf die Unterstützung von Freunden und Verwandten angewiesen, die beim Staat angestellt sind. Die Gehälter von Beamten sind in Bosnien-Herzegowina weit höher als die der meisten Angestellten und Arbeiter.

Zu Beginn kamen noch bis zu 1.000 Menschen zu den Bürgerforen, doch ihre Zahl hat stark abgenommen. Dass in Sarajevo am vergangenen Donnerstag überhaupt 150 Personen kamen, ist nicht zuletzt der Popularität der Band „Dubioza Kolektiv“ zu verdanken, die die Demonstranten akustisch unterstützte.

Vor dem Staatspräsidium Bosnien-Herzegowinas in Sarajevo protestieren derweil täglich Menschen. Vedran Svrdlin, 31, ist einer von ihnen: „Über vier Jahre lang war ich bei einer Bank angestellt, davon habe ich nur drei Monate lang mein reguläres Gehalt bekommen. Ich demonstriere seit dem 7. Februar jeden Tag vor dem Präsidium, wir werden aber immer weniger.“ Je nach Wochentag protestieren zwischen 20 und 50 Menschen vor dem Gebäude, das vor zwei Monaten in Brand gesteckt wurde. Sie kommen um 12 Uhr und gehen um 17 Uhr.


Das Durchschnittsalter im Bürgerforum ist hoch

Bei einem der letzten Redebeiträge auf dem 12. Bürgerplenum Sarajevos stellt sich ein älterer Herr auf die Bühne und schreit: „Warum beteiligen sich eigentlich so wenige junge Menschen an unserem Protest? Was bringen euch eure vielen Diplome, wenn ihr nicht auf der Seite der Wahrheit kämpft? Was bringen euch eure Diplome, wenn ihr keine Arbeit bekommt, von der ihr leben könnt?“

Das Durchschnittsalter im Bürgerforum und unter den Demonstranten vor dem Präsidium ist relativ hoch. Es ist kein Protest von jungen Akademikern, die sich um ihre Zukunft betrogen fühlen, sondern ein Protest von Bürgerinnen und Bürgern, die sich um ihr Leben betrogen fühlen.


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