Polen

Eltern belagern Parlament

Eigentlich läuft es für die polnische Regierung zwei Monate vor den Europawahlen gut. In Umfragen holt die regierende Bürgerplattform (PO) von Premierminister Donald Tusk gegenüber der erzkonservativen PiS auf, vor allem wegen der Krimkrise, in der sie mit harten Forderungen gegenüber Russland und dem Schüren von Kriegsängsten punktet.

Doch nun macht ausgerechnet ein Thema aus dem sozialen Bereich, der sonst in der polnischen Debatte häufig hintenansteht, einen Strich durch Tusks Wahlkampfrechnung. Denn seit Donnerstag vergangener Woche belagern rund zwei Dutzend Eltern von geistig oder körperlich behinderten Kindern gemeinsam mit ihrem Nachwuchs medienwirksam den Sejm, das polnische Parlament.

Die Eltern verlangen eine sofortige Anhebung der Sozialleistungen für Personen, die ihr behindertes Kind betreuen. Der Satz beträgt aktuell umgerechnet rund 200 Euro pro Monat, dazu kommen pro Kind 36 Euro Pflegegeld. Die Unterstützungsleistung müsse auf die Höhe des Nettomindestlohnes steigen, also rund 320 Euro pro Monat, fordern die Eltern.

„Wir werden andere EU-Länder darum bitten, dass sie unseren Kindern helfen"

„Meine Frau hat für die Betreuung unseres Kindes ihre Arbeit aufgeben müssen und bekommt statt des Mindestlohns nun 200 Euro. Der Fehlbetrag ist für uns viel Geld“, sagt ein protestierender Vater. Gemeinsam mit Anderen hat er sich mit Proviant und Schlafsack in den Fluren des Parlamentsgebäudes eingerichtet.

Die Regierung hatte den Satz zuletzt vor einem Jahr um rund 50 Euro angehoben und zugleich angekündigt, ihn bis 2019 an den dann geltenden Mindestlohn anzugleichen. In Gesprächen in den Sejm-Fluren am Sonntag, die live im Fernsehen übertragen wurden, bot Donald Tusk an, den Satz am 1. Mai um knapp 50 Euro anzuheben, ab 2015 nochmals um knapp 50 Euro und ab 2016 auf die Höhe des dann geltenden Mindestlohnes.

Die Mittel wolle er aus einem Fonds für den Straßenbau nehmen, so Tusk. Doch die Eltern lehnten ab. „Wir werden andere EU-Länder darum bitten, dass sie unseren Kindern helfen. Sie, Herr Premier, hatten seit den Wahlen drei Jahre Zeit, das System für uns auszubauen“, entgegnete eine Mutter erbost.

Einer weiteren Forderung der Eltern hat Tusk inzwischen zugestimmt: die Höhe des Sozialsatzes soll nicht mehr nach dem Grad der Behinderung des Kindes berechnet werden, sondern wird einheitlich gezahlt.

Für die Oppositionspartei PiS kommen die Proteste mehr als gelegen

Aufgerufen zur Parlamentsbelagerung hatte die konservative Splitterpartei Solidarisches Polen (SP), eine Abspaltung der PiS. Für die Oppositionsparteien kommen die Proteste mehr als gelegen: Sie versuchen, das Thema als Gegenpol zu dem von der Regierung forcierten Thema, dem Ukraine-Konflikt, zu nutzen. Vertreter der Mitte-Links-Partei SLD erklärten, dass mit ihrer Regierungsbeteiligung die Hilfssätze längst gestiegen wären. Jacek Sasin von der PiS, die in aktuellen Umfragen führt, giftete, dass „der Premier in den Gesprächen den Eindruck macht, als ob er erstmals von dem Problem erfahren hat“.

Zugleich bestätigte der Oppositionspolitiker die Schätzung der Regierung, wonach die Maximalforderung der Eltern den polnischen Steuerzahler jährlich knapp 350 Millionen Euro kosten würde. In den Jahren der PiS-Regierung von 2005 bis 2007 betrug der Sozialsatz für pflegende Eltern knapp 100 Euro und wurde in dieser Zeit nicht angehoben. Unterstützt werden die Eltern auch von der Gewerkschaft Solidarnosc.

Doch auch kritische Stimmen werden laut, vor allem wegen der Einbeziehung der Kinder, die gemeinsam mit ihren Eltern in den Sejm-Fluren übernachten. „Ich verstehe ihre Probleme, aber man kann sie nicht lösen, indem man die Kinder mit hineinzieht“, sagte Henryka Krzywonos, in den 1980er Jahren Ikone der Oppositionsbewegung und selbst vielfache Pflegemutter.

Die protestierenden Eltern wollen sich nun an die Ehefrau von Präsident Bronislaw Komorowski wenden. Das Parlamentsgebäude indes wollen sie nicht räumen. Ob ihnen Premier Tusk jedoch ein besseres Angebot vorlegen kann, ist fraglich. Er fürchtet weitere Proteste. „Jedes Mal, wenn eine Sozialleistung wächst, wächst auch die Gruppe derer, die diese verlangt“, sagte Tusk den Protestierenden.


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