Lettland

Stricken statt streiken

Rosa Schukowa ist in ihrer Strickerei unterwegs und kontrolliert die Qualität der Strümpfe. Sie greift in einen Stapel gestreifter Strumpfhosen und streicht mit einem Finger über die Nähte. Zufrieden setzt sie ihren Rundgang durch die Fabrikhalle fort.

Mit fünf Strickerinnen hat Rosa Schukowa nach Lettlands Unabhängigkeit 1991 angefangen, in einer kleinen Werkshalle am Stadtrand von Riga. Bis zum EU-Beitritt am 1. Mai 2004 wuchs ihre Strickerei auf mehr als 160 Mitarbeiter an.

Wie hunderttausende Letten war Rosa vor zehn Jahren auf den Domplatz von Riga gekommen. Sie riss die Arme hoch, klatschte und jubelte mit ihrer Familie, als die Europaflagge gehisst wurde und Lettlands damalige Präsidentin Vaira Vike-Freiberga den lang ersehnten Beitritt zur Europäischen Union verkündete. Wie viele Letten hoffte Rosa Schukowa auf Wachstum, um ihre Strickerei weiter auszubauen.


Die Ex-Sowjetrepublik war im Kaufrausch

Doch während Lettland nach dem EU-Beitritt wie alle drei Baltenrepubliken tatsächlich eine wirtschaftliche Blüte erlebte, stieß die Unternehmerin an ihre Grenzen: Die Aufträge aus dem Westen nahmen zwar zu, doch sie fand keine Mitarbeiter mehr. „Vierzig Näherinnen habe ich verloren, weil sie in Irland und Großbritannien mehr Geld verdienten. Neue konnte ich nicht einstellen, die Leute wurden zu teuer.“

Während die Arbeitskräfte zu Hunderttausenden ins Ausland abwanderten, drängten verstärkt westeuropäische Banken, vor allem aus Skandinavien, auf den baltischen Markt. Sie alle wollten neue Kunden gewinnen und boten billige Kredite an. Mehr als elf Milliarden Euro wurden allein in Lettland investiert. Wenn es um Estland, Lettland oder Litauen ging, war bald nur noch von den „Tigerstaaten“ die Rede, die Wirtschaft wuchs pro Jahr um bis zu zehn Prozent.


Dieser Text ist dem ostpol mag "Osterweiterung. Zehn Jahre in der EU" entnommen. Sie können das Themenheft hier bestellen.


Zahllose Letten wurden vom Kaufrausch gepackt. Sie nahmen Lockangebote der Banken an und verschuldeten sich bis über beide Ohren. Denn erstmals konnten die Menschen in der ehemaligen Sowjetrepublik billige Kredite aufnehmen. Dieser Versuchung erlag auch Tatjana Solenkova. Die Fabrikarbeiterin kündigte ihren Job am Fließband einer Kosmetikfabrik, nahm einen Kredit auf und machte sich mit einem Cafe mit angeschlossenem Lebensmittelgeschäft selbständig.


Ein strikter Sparkurs wie in Griechenland oder Spanien

Vor allem aber hatte im Baltikum ein Bauboom begonnen. Viele Letten, die mit ihren Familien bereits über Generationen in winzigen Plattenbauwohnungen wohnten, wollten sich endlich ihren Traum vom Eigenheim erfüllen. Luxusvillen und endlose Neubaugebiete zeugen bis heute davon.

Ende 2008 stoppte die weltweite Finanzkrise den Geldfluss aus den Mutterhäusern der ausländischen Banken und warf Lettland aus der Bahn. Baustellen mussten stillgelegt werden, Wolkenkratzer endeten im fünften Stockwerk, kleine Schwarzwaldhäuschen blieben ohne Dachstuhl.

Kurz darauf stand Lettland vor der Staatspleite – und war plötzlich in der gleichen Situation wie die Krisenländer im Süden der EU: Um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, bewilligten die Europäische Kommission und der Internationale Währungsfond der Baltenrepublik einen Kredit in Höhe von siebeneinhalb Milliarden Euro. Und verlangten dafür einen strengen Sparkurs.


Frauenpower im Baltikum
In keiner anderen EU-Region sitzen so viele Frauen in Führungsetagen wie im Baltikum: 45 Prozent der Chefs in Lettland sind weiblich. In Deutschland sind es nur 30 Prozent, selbst in Schweden nur 31 Prozent. Auch andere osteuropäische Länder wie Polen liegen mit ihrem Frauenanteil in Führungspositionen deutlich über dem EU-Schnitt von 34 Prozent. Das liegt an den Rollenvorbildern: Im Baltikum fehlte durch Krieg und Deportation eine ganze Männergeneration. Und auch im Kommunismus gingen die Frauen arbeiten.


Ähnlich wie in den anderen verschuldeten EU-Staaten Griechenland, Spanien oder Portugal wurden auch in Lettland Angestellte aus dem öffentlichen Dienst entlassen, Schulen geschlossen, Krankenhäuser dichtgemacht und die Gehälter um 20 bis 30 Prozent gekürzt. Tag für Tag standen Tausende ohne Arbeit auf der Straße.
Obwohl auch in Estland und Litauen die Immobilienblase platzte, waren die Nachbarstaaten niemals vom Staatsbankrott bedroht. Während Estland bereits zu Boomzeiten ausreichende Rücklagen geschaffen hatte, kam Litauen seine schleppende Gesetzgebung zur Hilfe.

Die Geldinstitute durften erst ein Jahr später als die Banken in Lettland freizügig Kredite an jedermann vergeben. „Nicht jeder Betrieb drängte in die Bauwirtschaft, nicht so viele Privatleute haben sich überschuldet“, sagt Raimondas Kuodis von der litauischen Zentralbank.

Vom Cafe zurück ans Fließband

Die Kleinunternehmerin Tatjana Solenkowa blieb in der Krise ohne Kunden. Sie musste ihr Cafe schließen und wurde arbeitslos. Aber nach einem Jahr habe sie Glück im Unglück gehabt: In ihrer Kosmetikfabrik wurden wieder Leute gesucht. „Auch wenn mein Gehalt jetzt winzig ist, bin ich froh, dass ich überhaupt eine Festanstellung gefunden habe.“
Wie die meisten Letten geht Tatjana Solenkowa die Krise pragmatisch und mit Optimismus an. Als auch ihr Mann seinen Job verlor, konnte die Familie kaum noch die Miete aufbringen und gleichzeitig den Kredit weiter abstottern. Tatjana pachtete daraufhin einen Schrebergarten, um teures Obst und Gemüse nicht mehr kaufen zu müssen.

Sie lernte, wie man Beete bestellt. Im Sommer setzt sie nach Feierabend Gurken und Zwiebeln, im Winter leben sie und ihr Mann von Tiefkühlkost und Eingemachtem. „Wir müssen jeden Cent dreimal umdrehen. Aber wir werden an der Krise nicht zerbrechen“, sagt sie.

Anders als in Griechenland oder Spanien ging in Lettland niemand auf die Straße, als der Sparkurs beschlossen wurde. Und während für Griechenland immer wieder milliardenschwere Rettungspakete geschnürt werden, hat Lettland seinen Kredit längst abbezahlt. „Wir haben gelernt, dass man nicht über seine Verhältnisse leben darf“, erklärt Rosa Schukowa den erstaunlichen Gleichmut, mit dem die Letten der Krise begegnen.

Für die Strumpffabrikantin war die Krise kein Rückschlag, im Gegenteil: „Große Betriebe haben entlassen, es gab wieder Arbeitskräfte, und ich konnte die Gehälter selbst festlegen und wieder wachsen.“ Obwohl sie 2011 über Nacht einen Millionenauftrag aus Deutschland verlor, war Rosa Schukowa kreativ und suchte ihre Kunden dort, wo es keine Eurokrise gab: Sie exportiert jetzt nach Russland und in die Ukraine und drängte unter eigenem Namen auch auf den heimischen lettischen Markt.
Sowohl die lettische Politik als auch die Industrie hätten aus der Finanzkrise gelernt, freut sich der Wirtschaftsexperte Aivars Timofejevs von der Hochschule „Stockholm School of Economics“. Der aufgeblähte Verwaltungsapparat wurde reformiert, Betriebe sparten Energiekosten, schlossen sich zusammen und stellten sich international besser auf. „Nur wenn wir Letten den Wert unserer Waren steigern, sind wir konkurrenzfähig auf dem europäischen Markt“, sagt Aivars Timofejevs.

Der Euro hat einen bitteren Beigeschmack

Einen bitteren Beigeschmack hat Lettlands rigide Sparpolitik allerdings am 21. November 2013 erhalten. Das Dach eines gerade zwei Jahre alten Einkaufszentrums stürzte ein und riss 54 Menschen in den Tod. Eine Ursache waren mangelnde Kontrollen. Denn auf Druck der europäischen Kreditgeber kürzte die Regierung den Haushalt so radikal, dass für Einsparungen von 70.000 Euro am 1. Juli 2009 die staatliche Baubehörde aufgelöst worden war. Die amtierende Regierung unter Ministerpräsident Valdis Dombrovskis übernahm die Verantwortung und trat kurz nach der Tragödie zurück.

Und es gibt noch ein anderes Thema, über das viele Letten wie auch die Strumpffabrikantin Rosa Schukowa nicht mehr so gelassen sprechen. Die Unternehmerin bereut inzwischen ihre Entscheidung, beim Volksentscheid über den EU-Beitritt im Jahr 2003 auch der Einführung des Euro zugestimmt zu haben. Seit Anfang 2014 zahlen auch die Letten in Euro. Bis heute kann Roza nicht verstehen, was Lettland oder Estland in der Eurozone wollen.
Um Krisenstaaten wie Griechenland oder womöglich sogar Spanien, Italien oder gar Frankreich unter die Arme zu greifen? Das ginge ihr zu weit. Als Vorbild möchte sie ihr Land aber weiter sehen. „Sparen, das geht doch“, sagt Rosa Schukowa. „Wir Letten, Esten und Litauer haben den anderen Euroländern vorgemacht, wie man eine Krise bewältigen kann“.


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