Rumänien

Das System Briefumschlag

Als ich mit 12 Jahren Fieber hatte und zur Hausärztin musste, sagte meine Mutter, ich sei jetzt groß genug, den Blumenstrauß und den Umschlag selbst zu überreichen. Damals, kurz nach der Wende, reagierte ich mit Unverständnis und Empörung. Ich weigerte mich, den Umschlag mit dem Geld auch nur anzufassen. Meine Mutter musste ihn wieder selber überreichen. Heute ist Rumänien EU-Mitglied – und die massive Korruption immer noch da. Doch heute ist meine Reaktion gelassener.


Dieser Text ist dem ostpol mag "Osterweiterung. Zehn Jahre in der EU" entnommen. Sie können das Themenheft hier bestellen.


Alex, ein Freund von mir, der auf das gleiche Bukarester Gymnasium ging, arbeitet inzwischen als Facharzt für Anästhesie und Notfallmedizin. Er begann seine Karriere an einer renommierten Bukarester Klinik. Wie an allen rumänischen Krankenhäusern lief auch hier das System Briefumschlag wie geschmiert. Als Berufseinsteiger verdiente Alex pro Monat gerade einmal 200 Euro – „eine Beleidigung, nicht einmal genug für Heizung und Strom“, empört er sich noch heute.

Deshalb beteiligte auch er sich am System – allerdings mit klaren Prinzipien: Alex schaute immer erst nach der Behandlung, wenn der Patient den Raum verlassen hatte in den Umschlag. Nicht alle Kollegen hielten sich an diese Regel des minimalen Anstands. Leider musste Alex am Ende einer 24-Stunden-Schicht oft feststellen, dass alle Umschläge zusammen nur 20 Euro hergaben. „Irgendwann hat’s mir gereicht“, sagt er. Vor drei Jahren wechselte er an ein Klinikum in Hamburg.


Politiker verstehen ihr Amt als Selbstbedienungsladen

Die Korruption in Rumänien ist allgegenwärtig, sie hat System. Und sie lässt sich nicht so effizient bekämpfen, wie die urbane und liberale Mittelschicht es sich beim EU-Beitritt vor sieben Jahren erhofft hat. Denn auch Spitzenpolitiker sind Teil des Systems und sehen ihr Amt als Selbstbedienungsladen, in dem sie sich persönlich bereichern können.

Der ehemalige sozialdemokratische Premier Adrian Nastase ließ während des Wahlkampfs im Jahr 2004 eine große Konferenz für die Bauunternehmen des Landes organisieren. Wer nicht komme, kriege keine öffentlichen Aufträge mehr, hieß es hinter vorgehaltener Hand. Die überteuerten Teilnahmegebühren flossen in die Wahlkampfkasse von Nastases Sozialdemokraten.

Die sogenannte DNA, eine Sonderstaatsanwaltschaft für die Bekämpfung der großangelegten Korruption, hat in den vergangenen Jahren frühere und amtierende Minister, Abgeordnete und Bürgermeister, Geschäftsleute, Ministerialbeamte und Richter angeklagt. Oft wurden diese dann auch verurteilt. Ex-Premier Nastase erhielt zwei Jahre Haft.

Doch immer noch nehmen die Rumänen ihr Land als extrem korrupt wahr: Auf dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International hat Rumänien seit dem EU-Beitritt seinen Punktwert zwar deutlich verbessert, steht aber nur auf Platz 69 – zusammen mit Kuwait und noch hinter Saudi Arabien oder Kuba. Die EU-Kommission prangert jedes Jahr die um sich greifende Korruption auf allen Ebenen der Verwaltung an – vom Innenministerium bis zum Rathaus. Etliche Male sperrte Brüssel Gelder aus den Strukturfonds wegen Veruntreuung.


Eine Priesterstelle für 3.000 Euro

Zwei Reporter der Tageszeitung „Romania Libera“ kontaktierten im Jahr 2009 den orthodoxen Erzbischof von Constanta und erklärten ihm, dass sie sich eine Priesterstelle wünschten, ihnen aber leider ein theologischer Hochschulabschluss fehle. Der „hochheilige Vater“ Teodosie bot den vermeintlichen Priesterkandidaten einen Deal an: Gegen 3.000 Euro ließe sich das Diplom auf dem Schnellweg ausstellen, eine Stelle als Dorfpfarrer inklusive. Eine lukrativere Position koste natürlich mehr, erklärte der Erzbischof, ohne zu wissen, dass das Gespräch aufgenommen wurde.

Bis heute ist in dieser glasklaren Korruptionsaffäre nichts passiert. Teodosie ist trotz unangenehmer DNA-Besuche und des wenig schmeichelhaften Spitznamens „Șpagoveanu“, was etwa „Bischof von Schmieren“ heißt, weiter im Amt. Die orthodoxe Kirche genießt nach wie vor ein erstaunliches Vertrauen in der Bevölkerung.

In Umfragen stilisieren sich die meisten Rumänen gerne zu Opfern der Korruption. Sie geben Politikern, Bürokraten und Geschäftsleuten die Schuld und hoffen, dass die EU die Situation ändern wird. Doch ein korruptes System ist ohne breite Akzeptanz und Beteiligung der Gesellschaft nicht möglich. Dabei eignen sich moralische und juristische Kategorien wie „Schuld“, „Gesetzestreue“ oder „Verbrechen“ wenig, wenn es darum geht, dieses soziologische und vor allem wirtschaftliche Phänomen zu verstehen.


Die Parallelstrukturen erfüllen Bedürfnisse

Weder meine Mutter noch meine damalige Hausärztin sind blinde moralische Monster, die nicht einsehen, dass das System Briefumschlag falsch ist. Vielmehr leben sie in einer traditionell armen Gesellschaft, in der der Staat notorisch schwach und unterfinanziert ist. Die Bürger haben keinen Grund, den institutionellen Mechanismen zu vertrauen oder sich mit „dem Gesetz“ zu identifizieren.

In Rumänien haben sich über die Jahre parallele Mechanismen und Netzwerke gebildet, die die Bedürfnisse der Menschen erfüllen. Ähnlich ist das in alten EU-Ländern wie Italien, das auf dem Index von Transparency International als genauso korrupt wahrgenommen wird wie Rumänien, oder Griechenland, das noch schlechter dasteht. Diese Parallelstrukturen bieten eine Alternative zu den nicht funktionierenden Mechanismen des Staates. Sie sind „die Korruption“. Die Korruption zu kritisieren, ohne den Sozialstaat und die Verwaltung zu stärken, ist deshalb kurzsichtig.


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