In Polen wächst die Kriegsangst
Jadwiga Langier traut den Russen keinen Meter über den Weg. Sie kamen schon einmal, erzählt die Rentnerin aus Poznan, und brachten sie und ihre Familie nach Sibirien. Ihre Eltern starben dort. Nach dem Krieg kam das kleine Mädchen nach Polen zurück, aber die russischen Truppen waren noch immer da und blieben fast 50 Jahre lang. „Putin ist unberechenbar“, sagt Langier jetzt. Sie erzählt, wie sie jeden Tag im Fernsehen den Stand der Dinge in der Ukraine verfolgt, wie sie betet und wie sie einkauft, so viel sie mit ihrem Rheuma in die dritte Etage tragen kann. „Es ist alles möglich, auch der Weltkrieg“, meint die 77-Jährige.
Die Händler stellen zwar keine Panikkäufe fest, die Angst vor einem Angriff des großen Nachbarn aber verbreitet sich in Polen seit Russlands Vormarsch auf der Krim nicht nur unter alten Menschen. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CBOS glauben 72 Prozent der Polen, die Situation in der Ukraine gefährde die Sicherheit im Land. Fast ein Drittel der Befragten sieht eine Gefahr für den Weltfrieden.
„Die Regierung sollte Kiew im Konflikt mit Russland diplomatisch und finanziell unterstützen“, sagt Natalia Gieburowska. Die 34 Jahre alte Englischlehrerin zieht den Vergleich mit dem Anschluss des Sudetenlandes an das deutsche Reich. „Damals hat die internationale Gemeinschaft auch zögerlich reagiert und alle behaupteten, es breche kein neuer Krieg aus“. Gieburowska hofft zwar auf die diplomatische Lösung, doch zum ersten Mal in ihren Leben empfindet sie Angst vor einem Krieg.
290.000 „Likes“ für ein Facebook-Profil zum dritten Weltkrieg
Auch sie hat schon das kürzlich angelegte Facebook-Profil mit dem Namen „Der dritte Weltkrieg – Bleib auf dem Laufenden“ besucht. Auf der Internetseite geben die Nutzer einander Tipps, wie man sich auf einen Einmarsch der russischen Truppen vorbereiten sollte. Das Interesse ist groß, in wenigen Tagen hat das Profil fast 290.000 „Likes“ bekommen. Auch Prominente äußern sich im Internet besorgt. „Es ist ihnen alles scheißegal“, twitterte der populäre Schauspieler Borys Szyc über die Russen. „Sie würden auch weiter gehen.“
Die Boulevardpresse heizt die Stimmung noch weiter auf. Die Zeitungen raten, was man im Kriegsfall braucht, oder listen die Standorte von Atomschutzbunkern auf. „Die Russen sind innerhalb von drei Tagen in Warschau“, drohte vor einigen Tagen das konservative Blatt „Fakt“. In einem Artikel kann man erfahren, wie man einen Evakuierungsrucksack packen sollte.
„Das Trauma des 17. September 1939 wurde aufgerüttelt“, erklärt der Historiker Pawel Smolenski die Hintergründe der Angst. An diesem Tag marschierte die Rote Armee in Polen ein und Stalin teilte kurz darauf das polnische Staatsgebiet unter sich und dem damals mit ihm verbündeten Hitler auf.
Polens Premier Donald Tusk fühlte sich am Mittwoch verpflichtet, in einer live übertragenen Rede das Volk zu beruhigen. „Die dramatischen Ereignisse aus der Vergangenheit werden nicht zu einem neuen Schrecken werden.“ Tusk erinnerte daran, dass Polen Mitglied von EU und Nato sei und ein Angriff auf das Land das ganze Bündnis mit in einen Krieg ziehen würde.
Rechtskonservative Politiker fordern Schießtrainings
Der bürgerliche Regierungschef sieht sich der Kritik der Opposition ausgesetzt. Rechtskonservative Politiker behaupten, Polen sei nicht auf einen Angriffskrieg vorbereitet und daran sei die Regierung schuld. 2009 wurde die Wehrpflicht abgeschafft und durch eine Berufsarmee ersetzt. „Seit acht Jahren macht kein erwachsener Mann Schießübungen“, klagt der Europaabgeordnete Tadeusz Cymanski von der Partei Polnische Solidarität. „Das ist ein Versäumnis und das muss sich ändern“. Wie Cymanski fordern auch andere Politiker des rechten Lagers, die Kampfbereitschaft der wehrpflichtigen Männer zu überprüfen.
Trotz aller Sorge vor einer Eskalation der Krim-Krise machen sich die Polen aber noch immer über die Situation lustig. Russlands Präsident ist zum Liebling der Satiriker und Fernseh-Kabarettisten geworden. „An wen grenzt Russland jetzt? An wen immer es will!“, heißt es da etwa. „Putin wird nach Polen kommen, um Lech Walesa den Friedensnobelpreis wegzunehmen“, scherzt auch Jadwiga Langier mit Galgenhumor. Sie hofft, dass ihre Urenkelin Nina im Frieden aufwachsen wird, doch Hoffnung alleine reiche nicht aus, sagt die Rentnerin. Dann geht sie in einen Discount-Markt, ein Paket Zwieback kaufen.