Der Gezi-Protest lebt wieder auf
Die Fahne fest umklammert geht Pursat einige Schritte vor, weiter kommt er nicht. Zehntausende begleiten den Trauermarsch für Berkin Elvan in Istanbul und halten Fahnen und Poster mit dem Gesicht des Jungen hoch, der während der Gezi-Proteste von einer Gaskartusche am Kopf getroffen wurden und am Dienstagmorgen nach neun Monaten Koma starb. Pursats Fahne zeigt Zeichen des Besiktas-Istanbul-Fanclubs Carsi und ebenfalls das Bild Berkins.
Der damals 14-Jährige Berkin Elvan hatte nicht an den Protesten teilgenommen – er wollte nur Brot holen gehen. Berkin ist das achte Todesopfer der Gezi-Proteste und das jüngste. 8.000 Menschen wurden währen der Proteste im vergangenen Sommer verletzt, viele durch Gaskartuschen oder Plastikkugeln, die sie an Kopf oder im Gesicht trafen.
„Tayyip ist ein Dieb, Tayyip ist ein Mörder“
„Berkins Mörder ist die Polizei der AKP“, rufen die Menschen und „Tayyip ist ein Dieb, Tayyip ist ein Mörder“. Einige haben sich symbolisch ein Brot um den Arm gebunden, ein Taxifahrer fährt hupend vorbei, er hat ein Laib Brot hinter die Windschutzscheibe geklemmt. Pursat schwenkt trotzig die Fahne, die Carsi-Fans scharen sich um ihn. Alle tragen neben den Besiktas-Schals ein kleines Bild von Berkin an der Brust. Die Besiktas-Fans waren während der Gezi-Proteste berühmt geworden; sie standen immer wieder an der Spitze der Demonstrationen. Berkin Elvans Tod ist für sie ein Symbol für die Polizeigewalt und dafür, dass die AKP-Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nach wie vor nichts aus den Protesten gelernt hat.
Erst am Wochenende hatte Präsident Abdullah Gül bei Berkins Familie angerufen und sich nach dem Gesundheitszustand des Jungen erkundigt. Da wog Berkin nur noch 16 Kilo und es war abzusehen, dass er es vielleicht nicht schaffen würde. Eine Mahnwache vor dem Krankenhaus wurde mit Tränengas auseinandergetrieben. Premier Erdogan hat sich bislang nicht bei der Familie gemeldet.
Nach Berkins Tod scheint es nun, als würden die Gezi-Proteste wieder aufleben. Am Dienstagabend demonstrierten die Menschen wieder landesweit, soweit die Polizei es zu ließ. Sofort wurden die Demonstranten mit Tränengas beschossen. Wieder gab es zahlreiche Verletzte. Genau deswegen machen die Menschen Erdogan persönlich für Berkins Tod verantwortlich.
„Wie kann so was sein?“
Eine Demonstrantin in Istanbul hält eine Zeitungsseite hoch. Es zeigt das schmerzverzerrte Gesicht der Mutter Berkins. Am Dienstag hatten sie seinen Sarg in ein Cemevi, ein alevitisches Gebetshaus, gebracht. Eine der Schwestern Berkins erlitt fast einen Nervenzusammenbruch, als sie den Sarg ihres Bruders sah, und rief laut Berkins Namen. Diese Bilder sind es, die die Menschen am Mittwoch in Istanbul wieder auf die Straße treiben. „Taksim ist überall, Widerstand ist überall“, rufen sie. Die Rufe gehen in Klatschen unter, denn ein Aktivist ist auf eine Laterne geklettert und reißt ein AKP-Wahlplakat herunter.
Ein weiterer Besiktas-Fan drängt sich an Pursat vorbei: „Wir haben die Nase voll“, sagt er. Seine Stimme überschlägt sich. Er sei Arzt, sagt er, und die Regierung verfolge Ärzte, die Demonstranten behandeln. „Wie kann so was sein?“ ruft er. „Ich bin ethisch verpflichtet zu helfen.“ Die Regierung solle zurücktreten, fügt er atemlos hinzu, auch wegen der Korruptionsaffäre. Seit Wochen steht Erdogan wegen Telefonmitschnitten unter Druck, die beweisen sollen, dass der Ministerpräsident und seine Vertrauten tief in Korruption verwickelt sind. Das die Mitschnitte echt sind, bezweifeln die Demonstranten nicht.
Besiktas-Fan Pursat glaubt, dass die Proteste jetzt wieder neuen Schwung erhalten. Doch nachdem das Internetgesetz verabschiedet wurde, durch das Webseiten künftig auch ohne richterlichen Beschluss gesperrt werden können, dachten das auch viele. Zum Massenprotest wie im vergangenen Sommer kam es jedoch nicht. „Jetzt gibt es kein Zurück“, meint Pursat. Früher oder später müsse die Regierung zurücktreten. Dass die Kommunalwahlen am 30. März fair verlaufen, glaubt er nicht.
„Wir werden auf jeden Fall wieder zu Protesten mobilisieren“, sagt Pursat und schwenkt energisch seine Fahne. Das Ende des Trauermarschs treibt die Polizei zu diesem Zeitpunkt mit Tränengas auseinander.