Ukraine

„Nicht die Russen, wir werden bedroht“

ostpol: Herr Khamsin, was macht Ihnen im Moment am meisten Angst?

Ali Khamsin: Nach der Mitteilung der illegal an die Macht gekommenen Regierung der Krim, dass der Anschluss an Russland bereits beschlossene Sache sei und das sogenannte Referendum nur noch dazu dienen soll, dies zu legitimieren, sind wir aufs Höchste alarmiert. Wir Krimtataren erinnern uns sehr genau an die Ereignisse in Abchasien, Süd-Ossetien, aber auch Tschetschenien. Und das macht uns Angst.

In der ganzen Welt streiten sich Experten, ob das, was derzeit auf der Krim stattfindet, eine Okkupation ist.

Khamsin: Was bitte soll das denn sonst sein? Selbstverständlich ist das eine Okkupation, denn die russische Bevölkerungsmehrheit auf der Krim verfügt nicht über die Soldaten und Spezialkräfte, die jetzt auf unseren Straßen zu sehen sind. Wir selbst haben bereits mehrfach Kontakt zu diesen Soldaten gehabt – es gibt gar keinen Zweifel, dass es sich hier um russische Einheiten handelt, egal ob sie Hoheitszeichen tragen oder nicht.

Die Krimtataren haben eigene Selbstverteidigungsgruppen in ihren Siedlungen aufgestellt – muss das nicht unweigerlich zum Konflikt mit den Besatzern führen?

Khamsin: Es gab mehrere Versuche unterschiedlicher militärischer Einheiten, krimtatarische Siedlungen zu okkupieren. Unsere unbewaffneten Selbstverteidigungsgruppen haben aber eine gute Arbeit geleistet. Sie konnten erreichen, dass die Einheiten die Siedlungen wieder verlassen haben. Allein ihre Existenz hält zumindest bisher auch Provokateure auf Distanz.

Wer stellt für die Krimtataren derzeit die größte Bedrohung dar?

Khamsin: Die größte Gefahr sind die von Russland entsandten Kosakeneinheiten aus dem Gebiet Krasnodar. Diese Einheiten sind berüchtigt für ihre Grausamkeiten und Plünderungen während des russisch-georgischen Krieges. Vor diesen Leuten fürchten sich im Übrigen nicht nur die Krimtataren, sondern auch die hier lebenden Ukrainer und selbst viele Russen. Angesichts dessen sind Putins Aussagen, Russland habe mit den Vorgängen auf der Krim nichts zu tun, besonders gefährlich. Denn damit hat er allen negativen Kräften auf der Krim einen Freibrief ausgestellt.

Vor den russischen Truppen haben sie also am wenigsten Angst?

Khamsin: Es ist naiv zu glauben, dass die russischen Truppen krimtatarische Siedlungen vor Angriffen der Kosaken oder anderer Banditen schützen werden. Aber bei ihnen herrscht dennoch eine gewisse Befehlsgewalt und Ordnung.

Wer hat denn die Russen auf der Krim angegriffen, dass sie jetzt so dringend um Schutz ersuchen, wie Moskau es darstellt?

Khamsin: Um Schutz gebeten haben politische Hasardeure, nicht die Mehrheit der russischen Bürger auf der Krim, mit denen wir friedlich zusammenleben. Der russische Generalkonsul auf der Krim, Herr Swetlischki, hat mehrfach betont, dass ihm kein einziger Fall bekannt sei, bei dem Russen auf der Krim angegriffen worden wären. Die Aussage des hochrangigsten russischen Vertreters auf der Krim straft also alle Aussagen von Präsident Putin, Außenminister Lawrov und dem russischen UN-Botschafter Tschurkin Lügen. Und die des selbsternannten Regierungschef der Krim, Sergej Aksjonow, sowieso.

In Europa weiß man sehr wenig über diesen Mann. Welche Erfahrungen haben die Krimtataren bisher mit Aksjonov gemacht?

Khamsin: Sergej Aksjonov gehörte zu Beginn der Neunziger Jahre zu einer Gruppe der organisierten Kriminalität, den sogenannten Baschmaki. 2012 griff er mit 200 Leuten Krimtataren an und zerstörte deren neu errichtete Häuser unter dem Vorwand, sie seien illegal errichtet worden.

Waren sie das denn?

Khamsin: Ja, natürlich. Denn wir Krimtataren haben nur selten die Chance, legal Häuser zu errichten, da die seit 20 Jahren von der russischsprachigen Mehrheit dominierten Behörden auf der Krim Bauanträge von Krimtataren entweder gar nicht oder nur sehr, sehr schleppend bearbeiten, während Bürger slawischer Abstammung im Verhältnis dazu sehr schnell nicht nur Baugenehmigungen, sondern auch das dazu beantragte Land überschrieben bekommen. Oft Land, das unseren Vorfahren gehörte, die entweder von der deutschen Wehrmacht ermordet oder von Stalin 1944 deportiert wurden. Fast die Hälfte des krimtatarischen Volkes hat diese Tragödie nicht überlebt.

Es gab Gerüchte, Türen von Krimtataren seien mit Kreuzen gekennzeichnet worden. Können Sie diese Gerüchte bestätigen?

Khamsin: Ja, das kann bestätigen. In Bachtschyssaraj wurden allein in der Straße, in der ich wohne, mehrere Haustüren mit solchen Kreuzen beschmiert. Meine Tochter fand eines Abends auf der Treppe zu unserem Haus einen Ziegelstein. Unter dem Stein lag eine zerquetschte Puppe. Die Zeichen sind klar, man will Angst und Schrecken verbreiten und bedroht die Familien der Krimtataren-Führer. Für uns ist traurig, dass man sich erst jetzt für uns zu interessieren beginnt. Wo war der europäische Protest, als 2008 unsere Friedhöfe von Russen geschändet wurden? Als viele unserer Gebetshäuser in diesem Jahr an einem der wichtigsten islamischen Feiertage von Russen angezündet wurden? Wieso interessierte es niemanden, dass immer wieder tatarische Jugendliche angegriffen, zusammengeschlagen oder absichtlich überfahren werden, die Täter aber immer wieder freigelassen werden? Nicht die Russen, sondern Nichtrussen und vor allem Tataren werden auf der Krim angegriffen – und zwar seit Jahren.

Wenn sich die Krimtataren von der EU derart im Stich gelassen fühlen, warum plädieren sie dann als einzige Volksgruppe auf der Krim geschlossen für eine engere Anbindung der Ukraine an Europa?

Khamsin: Weil wir hoffen, dass sich die EU diesmal nicht von ihren ökonomischen Interessen lenken lässt. Und weil wir sehen, dass in der EU Menschenrechte wirklich gelten und Minderheiten wirklich geschützt werden – was in Russland und den Staaten der von Russland favorisierten Zollunion nicht der Fall ist. In der derzeitigen Situation hätten vor allem die Krimtataren ein Recht, um Hilfe zu rufen. Aber an wen sollen sie sich wenden? Die russischen Einheiten haben alle ukrainischen Stützpunkte umstellt und verhindern so, dass die legitime Staatsmacht der Ukraine für Ruhe und Ordnung auf der Krim sorgen kann.

Was erwarten die Krimtataren von der deutschen Regierung?

Khamsin: Als die deutsche Wehrmacht die Krim besetzte, vernichtete sie mehr als 100 krimtatarische Dörfer. Die Sowjetunion wurde zur Verteidigung gezwungen, 50.000 krimtatarische Männer dienten deshalb in der Roten Armee. Der von Deutschland geführte Eroberungskrieg zwang sie, ihre Frauen, Kinder und Eltern schutzlos zurücklassen. Diese Schutzlosigkeit nutzte Stalin aus, um das gesamte Volk zu deportieren. Die Tragödie der Krimtataren ist also eng mit Deutschland verknüpft. Ich kann Deutschland nur an seine Verantwortung erinnern. Wir bereiten zurzeit ein Treffen unseres langjährigen Führers und Bürgerrechtlers Mustafa Dschemilev mit Bundespräsident Joachim Gauck vor. Wir hoffen auch auf ein Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. Und wir wären ihr sehr dankbar, wenn sie sie sich mit noch mehr Entschiedenheit Russlands Annexionsplänen entgegenstellen würde.

Es gibt viele europäische Politiker, auch deutsche, die die Krim längst als „verloren“ ansehen.

Khamsin: Sollte die internationale Gemeinschaft zulassen, dass die Krim entgegen aller auch international von Moskau geschlossenen Verträge zu russischem Gebiet erklärt wird, soll sich niemand wundern, wenn als nächstes die Republik Moldau, Polen und die baltischen Staaten Probleme bekommen.

Wie werden sich die Krimtataren beim für nächsten Sonntag geplanten Referendum verhalten?

Khamsin: Das geplante Referendum ist ungesetzlich und mit der Verfassung der souveränen Ukraine unvereinbar. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Krimtataren sich an einer ungesetzlichen Handlung beteiligen werden. Worüber man mit uns aber diskutieren kann, ist eine Stärkung der Autonomie der Krim, wenn dies bedeutet, dass die Rechte der Krimtataren mehr als bisher geschützt werden.

Glauben Sie, dass die Krim Teil der Ukraine bleiben wird?

Khamsin: Bisher hatte der russische Präsident stets betont, dass die Krim ukrainisches Territorium bleibe. Auch gegenüber dem türkischen Regierungschef. Deshalb schweigt die Türkei – noch. Aber was, wenn Ankara plötzlich sagen müsste, es sehe sich gezwungen, die Interessen des Turkvolkes der Krimtataren schützen, weil diese von Russen bedroht würden? Nicht auszudenken, was dann passieren würde.


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