MAJDAN!
Ich würde gern...
Ich würde gern einen Text für Ihren Band „Majdan“ Ukraine, Europa“ schreiben, aber mein Leben ist im Moment so angespannt, dass ich ehrlich gesagt schon vergessen habe, wie es ist, am Computer zu sitzen. Das Herz zieht sich mir zusammen, wenn ich sehe, wie unschuldige Menschen behandelt werden und wie grausam der Staat mit seinen Bürgern umgeht. Vielleicht halte ich die Ereignisse auf Facebook fest. Aber auch nicht alle. Ich verbringe derzeit meine Tage auf dem Majdan, in Krankenhäusern (in überfüllten Räumen), wo die verletzten und festgenommenen Aktivisten liegen und zu denen nicht mal die Abgeordneten vorgelassen werden, aber ich kann mir immer wieder Zutritt verschaff en, ich suche nach Vermissten und ihren Angehörigen, ich gehe zu Gerichtsverhandlungen.
Gestern war ich in einer Verhandlung, in der der Schauspieler Andrij Iwanjuk angeklagt wurde, der in dem Stück Darina die Süße, das nach meinem Roman inszeniert wurde, die Hauptrolle gespielt hat. Ihm drohen zwischen acht und fünfzehn Jahren Haft. Dabei war er einfach nur innerhalb der sieben-Kilometer-Zone um den Majdan die Straße entlang gelaufen, und er hatte einen Helm mit. Dabei läuft jetzt fast ganz Kiew mit Helm herum. Außerdem habe ich mich auch um den 73-jährigen Mykola Pasitschnyk gekümmert, der schwer misshandelt und unter Aufsicht gestellt wurde. Er wird beschuldigt, einen Berkut-Mann geschlagen zu haben.
Ein Aufstand gegen Ungerechtigkeit
Ich möchte gern, dass die deutschen Leser verstehen, dass es bei dem heutigen Widerstand in der Ukraine nicht um historische Traumata geht. Es ist ein Aufstand gegen Ungerechtigkeit, Korruption, fehlende Rechtsstaatlichkeit und gegen die Verletzung der Menschenwürde. Wenn man es mal kurz und knapp zusammenfasst. Der Widerstand hat die ganze Ukraine erfasst, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß.
Für Europa und die USA sind ein solch apokalyptisches Drama und die Motive für derartige Gewalt schwer zu verstehen, weil sich die Europäer und Amerikaner das Ausmaß der Korruption und Rechtlosigkeit, das in der Ukraine herrscht, auch nicht annähernd vorstellen können. Die demokratische Welt hegt vollkommen unmotivierte Illusionen bezüglich des Rechtswesens und der rechtsstaatlichen Instanzen hier im Land. Wenn Europa wirklich an einer Stabilität an seinen Außengrenzen interessiert ist, reicht es nicht, gebetsmühlenartig „Besorgnis“, „Sorge“ und „Beunruhigung“ bezüglich der gegenwärtigen Situation in der Ukraine zu bekunden. Ich weiß, dass es bestimmte bürokratische Hindernisse gibt, aber ich denke, dass die schnelle Abfolge der Ereignisse, die auch für Europa eine reale Bedrohung darstellen, eine ebenso schnelle Reaktion der europäischen Politiker erfordert.
Ich bleibe eine unverbesserliche Optimistin
Und so geht es tagaus, tagein: Gericht – Untersuchungshaft – endlose Gespräche mit Berkut-Leuten und den Soldaten der inneren Streitkräfte – Gänge zum Generalstaatsanwalt, hinter dem sich
die Staatsanwälte vor den Abgeordneten verstecken wie Ratten. Das ist auch ein apokalyptisches Bild – wie die Ukraine schwerfällig, aber entschlossen die sowjetische Schale abstreift , wie sie die Sowje verlässt, reinen Tisch macht. Der Prozess ist langwierig und schmerzhaft , da mache ich mir keine Illusionen.
Aber ich bleibe eine unverbesserliche Optimistin. Denn ich weiß, dass die ungeheure Energie, die die Massen jetzt aufbringen, nicht im Sande verlaufen wird, wie schwer die Verluste auch sein
mögen. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich mit Tränen in den Augen stolz auf mein Volk und stolz auf jeden Bürger im Widerstand. Ich weiß, dass die Ukrainer moralisch als Nation in Europa
ganz vorn stehen.
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe
MAJDAN!
Ukraine, Europa.
Herausgegeben von Claudia Dathe und Andreas Rostek
Übersetzt durch translit e.V. und andere
edition.fotoTAPETA__Flugschrift
Broschur, 160 Seiten, 13 x 22 cm
ISBN 978-3-940524-28-7
9,90 EUR (D) | 9,90 EUR (A) | 12,10 SFR (CH)