Ukraine

Auch in Charkow kippt die Stimmung

Noch ist Lenin hier der Größte. Aus knapp 20 Metern Höhe wacht seine riesige Statue über den Freiheitsplatz in der Stadtmitte Charkows, der zweitgrößten Stadt der Ukraine im Osten des Landes. Die Statue wird seit neustem selbst bewacht: Prorussische Gruppen haben Metallzäune um Lenins Sockel gezogen und Zelte aufgestellt. Manche wärmen ihre Hände an rostigen Fässern, aus denen Rauchschwaden ziehen. Ein Mütterchen schöpft Kascha – Haferbrei – aus einem verbeulten Metalltopf, Rockmusik aus der Perestroika-Zeit plärrt durch die kalte Luft.

„Hier wehen etwas viele russische Flaggen, oder?“, kommentiert Nikita Lazutikow die Szenerie und lacht schief. Der 22-jährige Fotograf im wattierten Parka beobachtet skeptisch, wie ein Mann in einem ausgedienten grauen Armeemantel vor dem Monument patrouilliert.

„Wahre Ukrainer wollen doch nicht zurück ins Russische Reich!”, sagt Lazutikow. „Ich weiß nur, dass Janukowitsch und seine Familie unser Geld besitzen. Und auch unser korrupter Bürgermeister gehen und dieser Lenin fallen muss!“ Der junge Mann reckt die Faust: „Slava Ukraina – Ruhm der Ukraine!“

Wofür Lenin hier gerade stehen muss? Könnte der Koloss lesen, er wäre irritiert: An Gitterstäben haften unzählige Plakate. Darauf ist mal die Abkürzung „EU“ wie auf einem Verkehrsschild durchgestrichen, ein anderes Piktogramm diskriminiert Schwule. Auf Flugblättern wird wahlweise dem eigentlich als Wendehals geltenden Charkower Bürgermeister Gennadij Kernes für schöne Parkanlagen gedankt, Kanzlerin Merkel als Faschistin beschimpft oder das russische Riesenreich beschworen.

Nur die orange-schwarz gestreiften Bändchen, die hier alle an den Jacken tragen, einen die umstehenden Grüppchen: Sie sind Symbol für den Tag des Sieges über Hitler-Deutschland, im „Großen Vaterländischen Krieg“. Schnell wird klar: Die Propaganda aus Moskau seit dem Umsturz in Kiew stößt hier im Nordosten, unweit der russischen Grenze, zunehmend auf Nährboden.


„Wir schützen nicht Lenin, wir schützen die Stadt!“

„Wir schützen nicht Lenin, wir schützen die Stadt!“ Iwan Kirsanow verknüpft sein Heldenband am Anorak mit einem blau-gelben Bändchen der Maidan-Bewegung. Auf beiden Seiten gebe es in Charkow vernünftige Leute, räumt der 27-jährige Informatiker halbherzig ein, „aber die da drüben, die wollten uns ihren Willen aufzwingen! Das haben wir jetzt ausgefochten!“ Kirsanow weist mit einer wirschen Handbewegung in Lenins Blickrichtung, weit über den Platz auf ein angestrahltes Gebäude in der Ferne.

„Die da drüben“, gemeint ist damit die vergleichsweise kleine Euromaidan-Bewegung Charkows, überwiegend Studenten der Universitätsstadt, auch Arbeiter, Künstler und Schriftsteller. Für eine gute Woche lang hatten sie die Regionalverwaltung besetzt gehalten, debattiert und Konzerte veranstaltet. In der Lobby schenkten Helfer süßen Tee aus und schmierten nach Hygiene-Vorschrift Brote.

Doch dann kippte die Stimmung. Am vergangenen Samstag füllte sich der Freiheitsplatz plötzlich mit Tausenden prorussischen Demonstranten, die lautstark russische Fahnen schwenkten. Schließlich versuchten Aktivisten überraschend, das Verwaltungsgebäude gewaltsam zu stürmen:

Vor dem Eingang – wo noch am Vortag der aus Kiew angereiste Sänger der ukrainischen Folk-Metal-Band „Sunshadow“ eine Zugabe nach der anderen gab – spratzen Glasscherben in die aufgewühlte Menge. Im ersten Stock wurde eine russische Flagge durch das Fenster gestoßen. „Bravo“, skandierten Schaulustige.

Knapp hundert Menschen erlitten teils schwere Verletzungen, unter ihnen der bekannte Schriftsteller und Dichter Serhij Zhadan. Von Anfang an war Zhadan beim Charkower Maidan aktiv, wochenlang hat er im Schewtschenko-Garten gegen eine korrupte Führungsriege angelesen, geredet und gesungen. Nach dem Angriff zeigen ihn Twitter-Bilder mit blutverschmiertem Gesicht. Im Netz wird er später schreiben, dass er von hinten auf den Kopf geschlagen, dass „in Rudeln“ angegriffen wurde.

Etwa zeitgleich brüstet sich ein junger Mann auf einer russischen Kontaktseite mit dem Hissen der Flagge. „Mit Ortsangabe Moskau“, erzählt Student Andrej Gedeon, der ebenfalls auf dem Freiheitssplatz steht. Er hat die Eskalation am Samstag beobachtet.

„Wir haben viele Busse mit russischen Kennzeichen vorfahren sehen.“ Diese hätten lauter Leute ausgespuckt, „die mit ganz anderem Akzent sprechen“, ergänzt Freund Mikhailo Strubitski, der neben ihm steht. „Das waren keine Charkower“.


Nur 15 Prozent befürworten die Angliederung der Ukraine an Russland

Die beiden jungen Männer Gedeon und Strubitski stammen ursprünglich aus Lemberg in der Westukraine, wo die Menschen mehrheitlich gegen Janukowitsch auf die Straße gingen. Obwohl beide zu gut die Propaganda kennen, die ‚Westlern’ in den östlichen Regionen häufig entgegen schlägt - „Faschisten!“, „Extremisten!“ - sind die Freunde überzeugt, dass in der Millionenstadt Charkow, mit vergleichsweise hohem Lebensstandard, kein Votum für eine Abspaltung Richtung Russland denkbar wäre.

Einer aktuellen Umfrage eines unabhängigen Kiewer Meinungsforschungsinstituts zufolge vertreten derzeit nur rund 15 Prozent der Bewohner der Region die Auffassung, die Ukraine und Russland sollten in einem Staat vereinigt sein. „Aber den Informationskrieg, den haben wir schon verloren“, sagt Andrej mit Blick auf das Lenin-Camp.

Scharf formulieren auch russischsprachige Charkower Schriftsteller ihre Antwort auf die Entscheidung des russischen Föderationsrats und die Truppenbewegungen auf der Krim: „Wir wollen nicht, dass ein anderes Land unter dem Vorwand, unsere Interessen zu schützen, seine Armee in unsere Stadt entsendet und das Leben unserer Familien und Freunde bedroht“, heißt es ihrer Petition, die sie vor einigen Tagen veröffentlicht haben. „Was wir brauchen, ist Frieden und ein ruhiges Leben.“

Für Ruhe vor der Regionalverwaltung soll seit dem Wochenende eine verstärkte Polizeipräsenz sorgen. Eine Traube von Sicherheitskräften schirmt hinter Metallschilden den Eingang ab, auf dem Dach weht wieder die ukrainische Flagge.

Doch die Furcht wächst: Im nahe gelegenen Kaffeehaus „Coffee Life“ schickt die Chefin ihre Kellnerinnen schon früh am Abend nach Hause, „weil wir nicht wissen, wer auf den Straßen umher zieht.“ Ausnahmezustand, lautet die knappe Erklärung an alle Gäste. Dass allerdings Russland Panzer in die Stadt schicken könnte, daran glaubt hier derzeit keiner.


„Ständig neue Nachrichten, es wird immer unübersichtlicher“

Noch am Sonntagabend lieferten sich prorussische Aktivisten vor der bewachten Verwaltung eine hitzige Debatte mit der örtlichen Polizei. Scheinbar aus dem Nichts hatten sich die Männer in zusammengewürfelter Armeekleidung, teils mit Kosakenmützen auf dem Kopf, auf dem Vorplatz formiert. Wieso die Sicherheitskräfte am Samstag auch Leute aus ihren Reihen festgenommen hätten, insistieren sie.

Man habe doch geholfen, das Gebäude zurückzuerobern. Selbst die Kollegen des lokalen TV-Senders Robinzon verlieren langsam den Überblick, wer eigentlich welche Rolle spielt: „Ständig neue Nachrichten, es wird immer unübersichtlicher“, stellt Reporterin Alina Schulga besorgt fest. „Und wir hätten nie gedacht, dass in Charkow so viele gegen die neue Regierung und Unterstützer Russlands sind.“

Das ist kein Krieg von Charkowern gegen Charkower, appelliert Schriftsteller Zhadan in seiner jüngsten Online-Nachricht an die lokalen Maidan-Unterstützer: „Denkt daran, wer heute die Quelle der Destabilisierung in Charkow ist!“ Im Nachsatz steht: „Ich gehe wieder auf die Barrikaden, die Nähte an meinen Wunden halten.“


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