Ukraine

Krimtataren fürchten um ihre Sicherheit

Der Fernseher in Remzi Kafadars Haus läuft ohne Pause und mit voller Lautstärke. Im Wohnzimmer des unverputzten Hauses sitzen der 31-Jährige, seine Frau, seine beiden Töchter, Vater, Mutter und Großmutter. Sie verfolgen gebannt die Nachrichten aus Simferopol, Kiew und Moskau.

Es sind keine guten: Ein Militärangriff Russlands in der Ukraine droht. Die Konfrontation könnte auf der Krim stattfinden, in der Heimat der Familie Kafadar. Ihr Haus im Dorf Fontany liegt nur wenige Kilometer von Simferopol entfernt. „Wir sind besorgt, natürlich“, sagt Remzi Kafadar. Seine Töchter hat er seit Tagen nicht mehr in die Schule geschickt. Sein Vater fügt fassungslos hinzu: „Kein normales Land tut das seinem Nachbarn an.“

Remzi Kafadar, ein stämmiger Mann mit schwarzem Kurzhaar, ist Abgeordneter im Dorfparlament und engagiert sich in der lokalen Vertretung der Krimtataren, dem Medschlis. Zu ihm kommen die Bewohner des Dorfes, wenn sie Probleme haben.

Seit einigen Tagen klopfen viele an seine Tür, klingelt sein Mobiltelefon ständig. Kafadar und die anderen 125 Familien in Fontany fühlen sich im Stich gelassen. „Die Regierung in Kiew unternimmt nichts“, sagt er. „Und wir sind hier in der Minderheit.“ Sie fürchten Übergriffe der russischen Mehrheitsbevölkerung. Denn die Tataren gelten als Verbündete Kiews.


„Wir befürchten, Minderheitenrechte zu verlieren“

Die Krim ist russisch: Das hört man dieser Tage häufig. Doch wenn es Ureinwohner der Krim gibt, dann sind es die Krimtataren. Sie haben die Halbinsel seit dem 15. Jahrhundert besiedelt. In Bachtschisaraj befand sich die Hauptstadt ihre Khanats. Die Tataren waren lange Zeit mit dem osmanischen Reich verbündet – und damit ebenfalls ein historischer Gegner der russischen Zaren.

Einst waren sie die Herren der Krim, doch heute sind sie in der Minderheit. 250.000 von knapp zwei Millionen Bewohnern. Die Krimtataren wurden im Mai 1944 von Stalin für ihre angebliche Unterstützung der deutschen Nationalsozialisten kollektiv bestraft: In Zügen siedelte man sie nach Zentralasien aus, viele starben auf der tagelangen Reise. Vergessen haben sie die Krim im Exil nie.

Auch Remzi Kafadar ist noch in Zentralasien geboren. Anfang der Neunziger Jahre durften die Tataren endlich zurückkehren. Die Krim gehörte nun zur unabhängigen Ukraine, die Behörden gestatteten die Wiederansiedlung: Für diesen Akt sind die Tataren noch immer dankbar.

Dies, und die Geschichte der Verbannung ist einer der Gründe, warum die Bevölkerungsgruppe über einen wachsenden russischen Einfluss oder gar eine Vereinigung mit Russland alles andere als glücklich ist. „Wir befürchten, Minderheitenrechte zu verlieren“, sagt Kafadar. Man lebe doch schon so lange im Staatsverband mit der Ukraine, warum solle das jetzt anders werden.

Die Krimtataren befürchten nun, einmal mehr als „nationale Verräter“ zu gelten. Per Kurznachrichtendienst Twitter machten am Samstag Berichte die Runde, wonach Türen von krimtartarischen Häusern von prorussischen Milizen gekennzeichnet wurden. Unabhängig bestätigen lässt sich das nicht. Doch die Angst vor Übergriffen und Plünderungen steigt.


„Ich sehe hier keinen Staat, der uns verteidigen könnte.“

Zu ihrer Selbstverteidigung gründen die Krimtataren nun Bürgerwehren. Auch in Fontany versammeln sich seit einigen Tagen die jungen Männer. Von sechs Uhr abends bis sechs Uhr morgens patrouillieren sie in Grüppchen die Straßen der Siedlung, fahren Kontrolltouren mit dem Auto, melden ihrem Kommandanten verdächtige Bewegungen.

Schließlich liegt Fontany direkt an der Straße Sewastopol – Simferopol, hier wurde in den vergangenen Tagen militärisches Gerät transportiert. Waffen habe man keine, die Bürgerwache diene nur zur Selbstverteidigung. „Es ist eine Vorsichtsmaßnahme, damit keine Plünderer kommen“, sagt der 62-jährige Enver Husseinow. Die Tataren müssten zur Selbsthilfe greifen: „Ich sehe hier keinen Staat, der uns verteidigen könnte.“

Das Verhältnis der Krimtataren zu den Lokalbehörden der Krim war nie konfliktfrei. Nach ihrer Rückkehr wurden die Tataren nicht freundlich willkommen geheißen. Es gab keine Wohnungen für sie. In ihren einstigen Häusern lebten längst andere – Russen und Ukrainer, die nach dem Zweiten Weltkrieg angesiedelt worden waren.

Eine Entschädigung haben sie nie erhalten. Die Tataren griffen zu einer umstrittenen Methode: Sie besetzten Land. Sie kamen in Wohnwägen und Zelten und siedelten vor allem im trockenen, steppenähnlichen Inland. Viele Siedlungen haben bis heute kein fließend Wasser, keinen Gasanschluss, keine Kanalisation.

Jetzt, nach Russlands Kriegserklärung, wächst die Angst der Tataren – aber auch das Bewusstsein, ihre Existenz auf der Krim verteidigen zu müssen. „Wir gehen nie mehr von der Krim weg“, sagt Kafadar.


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