Bosnien-Herzegowina

Demokratischer Aufbruch in Bosnien

Es ist jetzt schon das achte Bürgerplenum von Tuzla – und wieder platzt das Bosnische Kulturzentrum aus allen Nähten. „Ich bin kein Intellektueller“, sagt vorne ein Mann am Mikrofon, nur ein einfacher Arbeiter, der seit zehn Jahren für seine Rechte kämpft. Auch er habe mit ansehen müssen, wie seine Firma von einem privaten Investor erst aufgekauft und dann einfach nur ausgeschlachtet wurde.

Und die Arbeiter hätten schon seit Monaten keinen Lohn mehr enthalten. Dann ruft er zu einer neuen Großdemonstration auf, und direkt am Anschluss solle dann wieder ein Plenum stattfinden: Ein Plenum aller Bürger Tuzlas, direkt vor dem Regierungsgebäude. Zuruf aus dem Publikum: Aber sollte man die Demonstration nicht besser auf das Ende der Arbeitszeit legen? „Wieso das denn“, erwidert der Redner, „hier hat doch sowieso keiner Arbeit!“

Gelächter und heftigem Beifall im Publikum. Erneut sind es über 700 Menschen, die zusammen gekommen sind, um zu diskutieren, wie es weitergehen soll mit Stadt und Land. Unweit von hier hatten vor zwei Wochen die gewaltsamen Proteste begonnen, die schließlich das ganze Land erschüttern sollten. Arbeiter waren mit Arbeitslosen, Rentnern, Studierenden und Kriegsinvaliden gemeinsam auf die Straße gegangen, um gegen kriminelle Privatisierungen der ehemaligen Staatsbetriebe und die lokale Politikerkaste zu demonstrieren.

„Das, was hier passiert, ist so wichtig für Bosnien-Herzegowina.“

Der anfangs noch friedliche Protest mündete in Straßenschlachten und heftigen Zusammenstößen mit der Polizei. Auch in zahlreichen anderen Städten wurden daraufhin Regierungsgebäude gestürmt und in Brand gesetzt. In mehreren Kantonen traten daraufhin die Regierungen zurück.

Doch in der ehemals prosperierenden Industriestadt Tuzla, wo heute die Mehrheit der Menschen arbeitslos ist, wollte man sich nicht zufrieden geben. Kaum hatte sich dort der Rauch gelegt, fanden sich 30 Menschen zusammen und gründeten ein sogenanntes Plenum. Am nächsten Tag waren es schon 70, die über weitergehende Forderungen diskutieren wollten, dann 200 und plötzlich waren es 700. „Wir schaffen hier etwas ganz Neues“, sagt Damir Arsenijevic, ein junger Universitätsprofessor, der von Anfang an dabei ist. „Das, was hier passiert, ist so wichtig für Bosnien-Herzegowina.“

Tatsächlich finden solche Bürgerversammlungen inzwischen in allen größeren Städten des Landes statt. In der Hauptstadt Sarajevo waren es sogar einmal über 1.000 Menschen, die sich zum Plenum einfanden. Manche treten einfach nur ans Mikrofon, um ihre eigene Geschichte zu erzählen; sie berichten über ihre Probleme aus ihrem Alltag, von sozialem Abstieg, von Armut und ihren Erfahrungen mit Korruption. Manch andere bringen dagegen schon klare Forderungen mit.

Reformvorschläge, Arbeitsgruppen und direkte Demokratie

In Tuzla hat jeder hat zwei Minuten Redezeit, es gibt keinen offiziellen Sprecher, keine Führer und jedes Mal einen anderen Moderator. „Ein Plenum ist direkte Demokratie“, sagt Arsenijevic. Die Menschen seien ins Private geflüchtet, weil sie gedacht hätten, dass sie sowieso nichts machen können. „Jetzt aber will plötzlich jeder sagen, was ihm auf der Seele liegt und was getan werden müsste.“

Senkung der Politikerlöhne, Rücknahme der kriminellen Privatisierung von Staatsbetrieben, die Einrichtung einer Übergangsregierung mit parteilosen Experten – das sind nur einige der ersten Forderungen, die aus den Diskussionen hervorgegangen sind. Und schon gibt es erster Erfolge: Das Recht eines Ministers, noch ein ganzes Jahr nach seiner Amtszeit sein volles Gehalt weiter zu beziehen, wurde abgeschafft. Weitere Reformvorschläge werden nun in thematischen Arbeitsgruppen ausgearbeitet.

Am nächsten Tag stehen wieder ein paar hundert Demonstranten vor dem ausgebrannten Gebäude der Kantonsregierung. Es ist jetzt eine friedliche Stimmung wie im vergangen Sommer, als es in Bosnien schon einmal landesweite Demonstrationen gab. „Aber jetzt“, sagt die Arbeiterin Emina Busuladzic, „ist es anders.“ Jetzt ist sie fest davon überzeugt, dass wirklich etwas Neues entsteht: „Aber wir brauchen Zeit, wir gehen Schritt für Schritt. Wir können nicht kurzfristig ändern, was die“, und dabei zeigt sie auf das ausgebrannte Regierungsgebäude, „was die in 30 Jahren systematisch kaputt gemacht haben.“


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