Lemberg, das Zentrum der Proteste
Die Menschen in Lemberg müssten feiern. Doch ihnen ist nicht zum Feiern zumute. Viele von ihnen waren in den vergangenen Monaten drei, vier, manche sogar fünf Mal auf dem Maidan in Kiew, um das Regime von Viktor Janukowitsch zu stürzen. Nun ist es geschafft – und die meisten haben Tränen in den Augen, wenn sie darüber sprechen. So wie der 60-jährige Leonid Karpuk.
Am vergangenen Freitagabend sind zwei Särge auf dem Maidan in Lemberg aufgebahrt worden. Leonid Karpuk ist mit seinem Sohn gekommen, um den Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen. Immer wieder schießen ihm Tränen in die Augen, wenn er über den vermeintlichen Sieg über „Janukowitschs Bande“ spricht. „Das tut hier jedem weh“, sagt er und schluchzt. „Wie soll man zufrieden oder gar glücklich sein, wenn so viele junge Menschen ihr Leben opfern mussten?“
Lemberg gilt traditionell als Zentrum für Separatisten und Nationalisten. Der „Rechte Sektor“ beruft sich auf den Nationalisten Stepan Bandera, der vor dem Zweiten Weltkrieg mit Terrorakten die Sowjetunion und Polen bekämpfte. 1935 zettelten die Nationalisten in Lemberg einen Partisanenkampf gegen die Sowjetmacht an.
„Die Lemberger wissen, was europäische Werte und Normen sind“
Doch abgesehen von nationalistischen Strömungen wissen die Menschen hier auch, was Freiheit bedeutet. Lemberg ist nur 70 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Einst gehörte sie zu Österreich-Ungarn, dann zu Polen. Die Gebäude, die engen Gassen und das Kopfsteinpflaster erinnern an Prag, Wien oder Budapest. Sozialistische Fassaden sucht man vergeblich.
Und so ist auch das Denken der Lemberger westlich geprägt. Der Politikwissenschaftler Anatoliy Romanyuk zitiert eine Umfrage seiner Universität, wonach in Lemberg etwa 50 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal in den Westen gereist sind – in der ostukrainischen Stadt Donezk waren es hingegen nur fünf Prozent. „Die Lemberger wissen, was europäische Werte und Normen sind“, meint er. „Für die meisten Ostukrainer bleiben Begriffe wie Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit dagegen abstrakt.“
Doch es gebe auch Anzeichen dafür, dass eine breite Schicht von Ukrainern den Wechsel will, sagt der Wissenschaftler. Wichtig in dem Zusammenhang sei, dass man nicht mehr von „wir“ und „ihr“ spricht. „Wir sind jetzt ein Volk, es ist Zeit, diese Grenzen im Kopf einzureißen“, sagt Romanyuk. Dass in den vergangenen Tagen im ganzen Land die Leninstatuen abgebaut wurden, wertet er als Zeichen, dass die Sowjet-Ära endgültig vorbei sei. Dabei kam es immer wieder zu Tumulten.
Schmelztigel der Nationen
Auch Lemberg tauchte in den Nachrichten mit Bildern von Pogromen auf. Das Gebäude der Miliz und das der Prokuratur wurden gestürmt, teilweise wurden Fenster eingeschlagen. Doch die Randalierer waren vor allem Provokateure aus dem Osten der Ukraine, erklärt der Redakteur Taras Wozniak vom ukrainischen Magazin „Ji“. „Da ging es nur um die Fernsehbilder“, meint er – „um zu zeigen wie radikal Lemberg ist“. Auch die Meldung, dass Lemberg sich als autonom und unabhängig erklärt habe, sei falsch.
Schon immer hatten die Bewohner ein besonders ausgeprägtes Nationalbewusstsein, das sich in der Pflege der ukrainischen Sprache und Kultur äußerte. Aber gleichzeitig handelt es sich gerade bei Lemberg auch um einen Schmelztiegel unterschiedlicher Nationen. Deshalb gibt es hier traditionell auch einen hohen Grad an Toleranz gibt. Neben Ukrainern haben hier früher Polen, Juden, Deutsche und Armenier gelebt. Heute sind darunter auch Russen und Belarussen. Hinzu kommen die Touristen, die die Stadt spätestens seit der Fußball-Europameisterschaft 2012 als Reiseziel entdeckt haben.
Den meisten in Lemberg ist klar, dass der politische Umbruch gerade erst begonnen hat. Sie sagen: Der Kampf auf dem Maidan in Kiew, das war ein Kampf für eine bessere Perspektive. Und die sehen sie nicht mit der alten Führungsriege, vor allem nicht mit Julia Timoschenko. Sie wünschen sich einen echten Neuanfang mit Box-Weltmeister Vitali Klitschko oder Schokoladenkönig Petro Poroschenko. Vor allem müsse der künftige Präsident das Land einen und nicht weiter spalten.
„Wir wissen, dass wir den Karren selber aus dem Dreck ziehen müssen“, sagt Taras Wosniak. Weil die frühere Machtelite die Ukraine in den Staatsbankrott getrieben habe, sei man jetzt auf Finanzhilfen aus dem Westen angewiesen. „Wir brauchen Geld, und Europa braucht Arbeitskräfte und Absatzmärkte – wenn wir es clever anstellen, könnten beide Seiten von einer Annäherung profitieren“, so Voznyak.