Der Brünner „hantec“
Brno (n-ost) Wenn ein Tscheche den Namen Brünns, der zweitgrößten Stadt Tschechiens und heimlichen Hauptstadt der historischen Region Mähren, in den Mund nimmt, dann denkt er meist sofort unwillkürlich an das Messegelände, die Grand Prix-Rennbahn, mährischen Wein und die Legende vom Brünner Drachen – aber auch an eine seltsame Sprache, die nur wenige Menschen verstehen: den legendären Brünner Stadtjargon hantec. Manchmal kann man ihn noch, wenn sich ältere Herrschaften vertraut unterhalten, auf den Brünner Straßen hören – und man sollte sich als Deutscher nicht wundern, wenn man hie und da plötzlich mehr versteht als sonst.
In einem anonymen Lied heißt es:
Das Brünner Tschechisch ist eine vornehme Sprache.
Wer sie lernt, kriegt von ihr einen Krampf.
Sie strotzt nur so von „mutr“, „fotr“, „hauzmajstr“ und „švígrfotr“ –
Was für eine vornehme Sprache!
Die Ursprünge des hantec (auch hantýrunk, von tschech. hantýrovat: mit etwas umgehen, also „Umgangssprache“) reichen zurück in die Zeit um das Jahr 1900. Er entwickelte sich in einer locker zusammengeschlossenen sozialen Gruppe Brünns, die auf ihren Namen plotna (tsch. für „Platte“) sehr stolz war. Ihr Angehöriger (plotnák) stellte in gewisser Weise eine tschechische Variante des Wiener Strizzis dar.
Das Leben der plotna wurde stark von der wirtschaftlichen Situation geprägt. Es handelte sich bei ihr um niedrigere soziale Schichten, die nicht nur von Arbeitern, sondern auch von Kellnern, Chauffeuren, gescheiterten Studenten und anderen gebildet wurden. Sie trat als nach außen geschlossene und selbstbewusste Gruppe in Erscheinung. Der Sitz der plotna lag im innersten Brünn und an seiner Periferie. Genau genommen muss man bei jedem Brünner Stadtteil von einer eigenen plotna sprechen. Was ihre Angehörigen verband, waren gemeinsame Ansichten, Kleidung, Verhaltensweisen (man sagte ihnen u. a. ein sehr eigenartiges Verhältnis zur Arbeit nach: Man wollte zwar arbeiten – aber nur für viel Geld. So arbeiteten viele gar nicht oder nur gelegentlich) und – ihr Soziolekt, der hantec.
Ähnlich wie in Prag wurde die Metropole Mährens seit dem Mittelalter immer von Tschechen, Juden und Deutschen bewohnt. Die Deutschen machten dabei einen wesentlich größeren Anteil (bis 1945 etwa 30%) der Stadtbevölkerung aus als ihn etwa Prag zur gleichen Zeit aufwies (nur etwa 8-10%). Bedingt durch diese fast gleichgewichtige Koexistenz von Tschechen und Deutschen (auch die jüdische Assimilation in der Stadt tendierte mehrheitlich zu den Deutschen) und die stark österreichische Prägung Brünns (das man scherzhaft als „Vorort Wiens“ bezeichnete) bildete sich so ein Mischjargon. Viele Tschechen besuchten damals deutsche Schulen, wo sie „deutsch nicht lernten und tschechisch vergaßen“. In grammatischer Hinsicht handelte es sich bei dem Slang zwar immer noch um eine Varietät des Standardtschechischen – vor allem die schwierige Deklination der Substantive blieb die gleiche -, die jedoch teilweise eine andere Lautung besaß und vor allem in der Lexik von Germanismen nur so strotzte. Einen geringeren Einfluss hatten bis 1945 das Jiddische und die Sprache der Roma. Als Neuerscheinung findet man heute auch verschiedene Anglizismen im Brünner Slang.
Dies machte es etwa einem Prager Tschechen bald fast unmöglich, die Sprache der plotna zu verstehen. Zum Vergleich könnte man sich etwa die Situation eines Hamburgers vorstellen, der sich mit dem Dialekt des Bayerischen Waldes konfrontiert sieht.
Der eigentümliche Wortschatz des hantec bildete sich bis zum I. Weltkrieg vollständig heraus. Um nur einige bemerkenswerte Beispiele zu nennen, die keiner Übersetzung bedürfen, weil sie direkt aus dem Deutschen übernommen wurden und nur leicht orthographisch verändert auftreten: augle, bergle, cajtunk, drek, fenstr, fertig, fest, fišla, fóršus, haus, hausarest, jár, kauf, kénig, kirch, krýgl, lajntuch, líbezbríf, loch, luft, mébl, mesr, ordnunk, rathaus, rauchpauza, raus, šlajfka, špígl, špíl, tepich, vasr.
Viele der übernommenen Substantive können dabei ihre unzweifelhafte Herkunft aus den bairisch-österreichischen Dialekten nicht verbergen und folgen ihnen in Lautung und Schreibung: fotr (Vater), haksna (Bein, von „Haxe“), kastla (Kästchen), ksicht (Gesicht) ksindl (Gesindel) und kšeft (Geschäft).
Die tschechische Endung -ovat beim Verbinfinitiv, mit der man praktisch jedes fremdsprachliche Verb schnell einbürgern kann, ermöglichte ebenso die unkomplizierte Amalgierung deutscher Verben: aufpasovat, futrovat, jódlovat, lágrovat, lifrovat, rychtovat, smajchlovat. Als Deutscher oder Österreicher muss man in Brünn zweifellos des öfteren schmunzeln, wenn man solche Wörter hört.
Schließlich sprechen auch die Jargonbezeichnungen für einige Orte in Brünn eine deutliche Sprache. So nennt man den altbrünner Friedhof, manchmal auch die gesamte Altstadt Oltec (von deutsch „alt“), der Stadtteil „Gelber Hügel“ heißt Gelbec, der „Rote Hügel“ Rotec. Den Krautmarkt bezeichnet man als Krautec.
So besaßen die Tschechen der plotna, wie die Deutschen an der „Waterkant“ nun auch ihr echtes Platt. Im alten (oft nur künstlich hochstilisierten) „Kampf“ Brünns gegen den Pragozentrismus und die Prager Abqualifizierung als „großes Dorf“ und um die eigene Position als einstige Hauptstadt Mährens wurde der hantec auch als Waffe eingesetzt, als Code, mit dem man sich dem Nicht-Brünner unverständlich machte, als Symbol Brünner Eigenständigkeit gegen jegliche Vereinnahmung von Prager Seite. So existierten auch viele Witze im und um den hantec, in welchen der listige, den Stadtjargon sprechende Brünner die Oberhand über den hochnäsigen Prager behält.
Nach dem II. Weltkrieg und der Vertreibung fast aller Deutschen aus Brünn nahm die Beliebtheit des hantec stetig ab, zumal auch die Kommunisten naturgemäß alle Sonderentwicklungen und Normabweichungen im Staat zu unterdrücken versuchten. Bald sprach ihn nur noch die ältere Generation im privaten Bereich unter sich. Die jüngeren Jahrgänge beherrschten ihn nicht mehr und kannten bzw. benutzten höchstens noch ein paar besonders bekannte Wörter wie šalina („Tram“, kontrahiert aus dt. „elektrische Linie“), škopek (ein Bier, eigentlich ein Schaff) und štatl (von dt. „Stadt“, Synonym für Brünn), die inzwischen auch in der ganzen Republik als Brünner Schöpfungen bekannt waren.
Nach einer längeren Phase des Niedergangs erfuhr der vom Aussterben bedrohte Slang in den 70er Jahren erste Wiederbelebungsversuche: Einige Brünner Originale nahmen sich der erneuten Pflege und Rettung des heimischen Umgangstones an, allen voran eine Gestalt, deren Namen von echten Brünnern nur mit Ehrfurcht ausgesprochen wird: der unvergessliche Franta Kocourek, der „Gladiator des hantec“. Der muskelbepackte Herkules, der mit seinem geistig leicht zurückgebliebenen Kompagnon Rudi Kovanda und anderen Freunden in zahlreichen musikalischen Witz-, Ulk-, Tanz- und Unterhaltungs-Shows oder in Straßen-Aktionen - er war für seinen riesigen Schmiedehammer und sein demonstratives Viktory-Zeichen bekannt - der Welt des hantec neues Leben einhauchte. Noch heute begehen echte Brünner jährlich feierlich gemeinsam den Geburtstag Franta Kocoureks.
Nach dem frühen Tod des großen hantec-Mystifikators (1987) und der Samtenen Revolution kam es ab Mitte der 90er Jahren zu einer weiteren, noch andauernden Welle der Reanimation: Nun erschienen zahlreiche Publikationen, vor allem der Brünner Pavel Jelínek-Cica und Pavel Kopriva, die den hantec propagieren sollten, u. a. „Das Statl“, „Der hantec-Spiegel“, „Das große Buch vom hantec“. Es handelt sich hier um Sammlungen meist ironischer Geschichten, Gedichte, Erinnerungen und Anekdoten, Legenden und Lieder(noten) im und über die Welt des hantec, die in der Regel meist mit einem Glossar versehen wurden oder gleich zweisprachige Ausgaben darstellen, um für den (inzwischen) hantec-Unkundigen kein Buch mit sieben Siegeln darzustellen. Diese Bücher sammeln Basiswissen über die plotna und ihre Welt. Ergänzt wird dieses Angebot durch ein erstes gedrucktes Wörterbuch (Tschechisch-hantec) und zahlreiche CD-Editionen, auf welchen Brünner Honoratioren und Originale im hantec amüsante Geschichten von damals zum Besten geben.
Schließlich gibt es im Raum Brünn auch diverse Bands, die – meist im Country-Folk-Stil - ihre Liedertexte ausschließlich im hantec verfassen, so etwa Bob Frídl oder Radek Retegy mit den Los Brños, die Gruppen Brnenstí gajdoši, Kamelot, Karabina & Rowers und Bokomara. Diese Musik ist natürlich auch im CD-Handel erhältlich. All diese Editionen sind das Werk des Brünner Verlages FT Records (im Internet unter: http://www.ftrecords.cz).
Doch nicht genug damit: Auch die Wirtschaft hat die Werbewirksamkeit des hantec längst erkannt und aufgegriffen: Sie versucht, mit Hilfe des Slangs eine Identifikation der potentiellen Brünner Kundschaft mit Brünner Erzeugnissen herzustellen. Allem voran schreitet die Brauerei Starobrno, die im Kampf gegen die tschechienweit beliebteren Marken Budweiser und Pilsener Urquell auf die Kraft des Brünner Lokalpatriotismus setzt: So zeigt man auf großen Plakaten einen mit Starobrno gefüllten Krug, dessen Schaumkrone deutlich die Züge der charakteristischen Altstadtsilhouette mit dem Kathedralhügel Petrov und der Burg Špilberk trägt. Im Jargon wird dies als „Bier, das der Stadt (=Brünn) den Namen zuwarf“ bezeichnet. Andere Reklamen preisen diese Biermarke im hantec gar als „Heiligtum des Urvaters Mährens“ an. Starobrno ist ebenfalls Sponsor eines Online-Wörterbuches (tschechisch-hantec, http://wwww.slovniky.centrum.cz) im Internet – eines von insgesamt 15, die es inzwischen bei verschiedenen tschechischen Anbietern im Netz gibt.
Darüber hinaus besinnt sich auch die Brünner Gastronomie - etwa die Gaststätten Gingilla und Spalícek - auf alte Tugenden: Speisekarten werden im hantec verfasst. Man bietet typische Brünner Kost sozusagen im Originalton an. Auf den Rechnungsblöcken der Kellner, die von Starobrno herausgegeben wurden, findet sich ferner im hantec ein Schnellkurs in der „Altbrünner Zeichensprache“, mit der man dem kundigen Kellner aus der Distanz seine Bestellungen signalisieren kann.
Trotz all dieser bemerkenswerten Bemühungen scheint das Aussterben des Stadtjargons als aktiv gesprochene Sprache nicht mehr aufhaltbar zu sein, da die letzten Alten, die ihn noch beherrschen, bald nicht mehr leben werden und die Jugend höchstens noch ein Interesse am passiven Verständnis zeigt. Man amüsiert sich vielmehr über den Slang als Altbrünner Kuriosum und streut in Kneipengesprächen ab und zu ein Wort ein, dass man sich gemerkt hat. Der hantec wird, wenn nun auch wohl kodifiziert und dokumentiert, vermutlich bald eine tote Sprache sein.