Tschechien

Theresienstadts vergessener Häftling

In dem Jahr, in dem der 19-jährige Gavrilo Princip in Sarajevo die Hand hebt und auf den Abzug drückt, erscheint in Berlin Martin Pappenheims Studie „Die Neurosen und Psychosen des Pubertätsalters“. Princips Schüsse töten den österreichischen Thronfolger und dessen Frau, lösen die sogenannte Julikrise aus und führen wenige Wochen später zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Ein Jahr später, Princip ist längst verurteilt und in Haft, wird Pappenheim in Wien habilitiert. Als Militärarzt wird er sich danach vor allem mit den Kriegsneurosen der Soldaten beschäftigen.

Im Frühjahr 1916 befindet sich Pappenheim dienstlich in der Festung Theresienstadt im heutigen Terezin in Tschechien, die im 18. Jahrhundert von den Habsburgern erbaut wurde. Gavrilo Princip, nach damaligem Recht noch minderjährig, deshalb der Todesstrafe entgangen und zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt, sitzt dort zusammen mit einigen weiteren Beteiligten des Attentats ein.

Der Psychiater Pappenheim wird zwischen Februar und Juni mehrere Gespräche mit dem jungen Attentäter führen, die er in Notizen festhält. Diese offenbaren einen wenig bekannten Blick auf das Leben des Attentäters von Sarajevo, seine Lebensgeschichte, die Geschichte des Attentats sowie seine Ideale. Der Insasse Princip, ein schmächtiger Bursche, ist zu diesem Zeitpunkt bereits gezeichnet von eineinhalb Jahren Kerkerhaft. „Durch die Haftbedingungen wurde er umgebracht, ohne dass das Gesetz verletzt wurde“, sagt der Historiker Vojtech Blodig, Vize-Direktor der Gedenkstätte Theresienstadt. „Von Anfang an war seine Behandlung ziemlich schlecht und man rechnete damit, dass er hier umkommen wird.“


Princip wurde in Dunkelhaft gehalten, durfte mit niemandem sprechen

Das Gebäude, in dem Princip in der Kleinen Festung Theresienstadt ab Dezember 1914 eingekerkert war, erinnert von außen an einen Stall. Der Gang ist schmal, dunkel, Princips Zelle ist die erste von links. Er wurde in Dunkelhaft gehalten, durfte mit niemandem sprechen, keine Bücher lesen, für die Notdurft diente ein Eimer, waschen durfte er sich einmal pro Woche. Die Zelle ist knapp zweineinhalb Meter lang und eineinhalb Meter breit, kalt, feucht. Am Ort der ursprünglichen Zellentür erinnert noch eine Tafel mit der Aufschrift „Cela Gavrilo Principa“ an den einst berühmtesten Häftling. Heute redet niemand mehr von ihm.

Während des Zweiten Weltkriegs diente die Kleine Festung Theresienstadt als Gestapo-Gefängnis. „Die Erinnerung ist komplett von dieser Zeit überlagert“, sagt Historiker Blodig. Zwar werden sind auch serbische Diplomaten unter jenen, die jährlich im Mai in der Gedenkstätte Blumen ablegen, aber das geht auf die Initiative der in erster Linie jüdischen Häftlinge aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zurück. Mit Princip selbst habe das wenig zu tun, meint Blodig. „Für die heutige Generation ist es fast eine unbekannte Geschichte, dass er hier gewesen ist, und es wird zum hundertsten Jahrestag des Attentats mit Sicherheit auch keine Wallfahrten geben.“

Princip hält knapp eineinhalb Jahre im Kerker durch, dann wird er wegen einer Tuberkuloserkrankung ins Militärkrankenhaus eingeliefert. In dem mächtigen, heute leerstehenden Bau mit der gelben Fassade, nur ein paar Schritte vom Stadtzentrum entfernt, trifft er mit Martin Pappenheim zusammen. Sie sprechen Deutsch, das Princip zwar nicht fließend kann, genug aber, um sich zu verständigen. „Pappenheim wollte die Gelegenheit einfach nutzen, mit dieser Ausnahmepersönlichkeit zu sprechen“, sagt Vojtech Blodig.


Er habe nicht denken können, dass wegen seiner Tat ein Weltkrieg ausbreche

Princip gilt damals den einen als Held, den anderen als gefährlicher serbischer Nationalist. In den Gesprächen mit Pappenheim formt sich das Bild eines ruhigen, sentimentalen und introvertierten Musterschülers, der immer wieder auf Ablehnung stößt, sei es bei einem Mädchen oder beim Militär, das ihn für zu schwach für den Einsatz im Balkankrieg befindet. Stattdessen vergräbt er sich in Bücher und träumt von der Einheit der südslawischen Völker, der Serben, Kroaten, Slowenen. Aber nicht unter österreichischer Herrschaft, heißt es in den Notizen, sondern in einer „Republik oder so“. Für eine solche Revolution habe das Terrain bereitet werden müssen. Er habe nicht denken können, dass wegen seiner Tat ein Weltkrieg ausbrechen werde, und könne sich deshalb auch nicht schuldig fühlen. „Fürchte aber, dass umsonst getan habe“, zitiert Pappenheim den Attentäter.

Die Gespräche mit Princip werden 1926 in Wien in einem 32-seitigen Buch veröffentlicht. Bereits 1919 war es auf Tschechisch erschienen. Kein Zufall, wie Historiker Blodig findet: „Die Tat Princips war Bestandteil der Widerstandsbewegung der Slawen gegen die Monarchie und als solche Teil der ideologischen Basis des neu gegründeten tschechoslowakischen Staates.“ Noch heute ist in Terezin eine Straße nach Princip benannt.

Am 28. April 1918 stirbt Gavrilo Princip im Gefängnislazarett von Theresienstadt mit 23 Jahren an Knochentuberkulose. Er wird auf dem städtischen Friedhof beerdigt. 1920 werden seine Gebeine nach Sarajevo überführt. Zusammen mit den Mitverschwörern des Juni 1914 liegt er heute auf dem dortigen Friedhof Kosevo begraben.


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