Entlang der vergessenen Front
In gewisser Weise ist es Alexander Solschenizyn zu verdanken, dass sich nach fast 100 Jahren plötzlich Touristen für den Verlauf einer bisher kaum beachteten Front interessieren: der Ostfront des Ersten Weltkriegs, die sich über Jahre durch das Gebiet des heutigen Polen zog.
„Ich saß gerade an der Übersetzung von Solschenizyns Roman ‚August Vierzehn‘, als mir auf einmal bewusst wurde, dass die russischen Truppen, die er im Buch beschreibt, in der Nähe meiner Heimatstadt Lodz kämpften“, erinnert sich Michal Jagiello, damals Hobbyhistoriker und Übersetzer russischer Literatur. Inzwischen ist er der Koordinator der neuen Touristenroute „Erinnerungsweg zur Ostfront des Ersten Weltkriegs“.
Von der Forschung vernachlässigt
Nach diesem Schlüsselerlebnis vor einigen Jahren machte Jagiello sich daran, nach Informationen über die vergessenen Orte und Fakten aus dem Ersten Weltkrieg zu suchen. Denn die Ostfront war in Polen bis vor kurzem wenig untersucht; die Forschung beschränkte sich in erster Linie auf die Wiedergewinnung der polnischen Unabhängigkeit im Jahre 1918.
Dabei war die Schlacht um Lodz eine der größten und wichtigsten in der Frühphase des Ersten Weltkriegs. In ihr standen sich im November und Dezember 1914 rund 600.000 russische und deutsche Soldaten gegenüber. Auch die Technisierung des Krieges nahm in dieser Gegend ihren Anfang: In der Nähe von Pabianice bei Lodz setzten die Russen zum ersten Mal Panzerautos ein, die Schlacht im nahen Bolimow war eine der ersten, in der die Deutschen Giftgas benutzten. Die Schmalspurbahn in Rogowo, einst für Kriegszwecke gebaut, ist bis heute im Betrieb.
An solche Fakten sowie ehemalige Schlachtfelder, Festungen, Kasernen und Friedhöfe aus dem Ersten Weltkrieg soll die Themenroute erinnern. Die ursprüngliche Idee war, den Erinnerungsweg nur rund um Lodz einzurichten. Zusammen mit anderen Hobbyhistorikern gelang es Jagiello allerdings, acht polnische Woiwodschaften von dem Projekt zu überzeugen. 2009 unterzeichneten die Vertreter der Regionen eine Erklärung über die Entstehung der Themenroute bis 2014. Finanziert wird das Projekt aus kommunalen Mitteln, an manchen Orten mit Beteiligung der EU.
Eine wuchtige Eiche von 1918 erinnert an die erkämpfte Unabhängigkeit
Mittlerweile verläuft der Erinnerungsweg durch fast die gesamte östliche Hälfte Polens, von Ermland-Masuren bis zum Karpatenvorland. In vielen Regionen ist er bereits fertig und gewinnt unter Touristen und Interessierten immer mehr an Popularität. Als Vorreiter gilt Kleinpolen. Auf der historischen Strecke befinden sich hier über 30 Orte, darunter Gorlice, wo die Front 1915 ein halbes Jahr lang verlief. Alle Sehenswürdigkeiten wurden auf den Karten gekennzeichnet und vor Ort in drei Sprachen ausgeschildert: Polnisch, Englisch und Deutsch. Nun soll auch Russisch folgen.
Zu sehen sind etwa auf dem Streckenabschnitt in Kleinpolen fünf einst österreichische Festungen in Krakau oder das Haus in Limanowa, in dem der Freiheitskämpfer und spätere Marschall der Zweiten Polnischen Republik Jozef Pilsudski wohnte. In Nowy Sacz, etwa 100 Kilometer südöstlich von Krakau, stoßen Touristen auf eine wuchtige Eiche, die 1918 zur Erinnerung an die im Krieg erkämpfte Unabhängigkeit Polens gepflanzt wurde.
Sobald die ersten Schilder auf der Route aufgestellt wurden, tauchten auch Touristen auf. Zuerst kamen vor allem Privatpersonen aus Deutschland oder Österreich, deren Verwandte hier im Krieg gefallen waren. „Jetzt sehen wir immer öfter ganze Bussen mit Touristen, die sich für das Thema interessieren“, sagt Jagiello. Er träumt davon, dass die Route in Zukunft so viele Besucher anzieht wie Verdun in Frankreich. Für Jagiello wäre das naheliegend: Denn während auf den Gebieten des heutigen Deutschlands oder Russlands mit Ausnahme Kaliningrads keine Kämpfe stattfanden, gibt es „in Polen genug bedeutsame Orte, die mit dem Ersten Weltkrieg verbunden sind“.
400 Friedhöfe aus dem Ersten Weltkrieg
Dazu gehören auch unzählige Friedhöfe im ganzen Land, auf denen Soldaten verschiedener Nationalitäten liegen, darunter Polen, Deutsche, Russen, Österreicher, Tschechen, Ungarn und Serben. „Alleine in Kleinpolen gibt es etwa 400 Friedhöfe aus dem Ersten Weltkrieg“, sagt Ryszard Zadlo aus Tarnow, der Beauftragte des Marschallamtes Kleinpolen für die Themenroute. Noch vor 15 Jahren seien viele von ihnen in einem sehr schlechten Zustand gewesen. Zusammen mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge sowie dem Österreichischen Schwarzen Kreuz wurden sie in den vergangenen Jahren renoviert. Auch die Bundeswehr und die polnische Armee hätten einen großen Teil beigetragen, erzählt Zadlo.
Auch Michal Jagiello sind die verfallenen Friedhöfe ein Anliegen: 2008 schrieb er an den damaligen russischen Präsidenten Dmitri Medwedew und beschwerte sich, Russland kümmere sich kaum um die Gräber seiner Gefallenen aus dem Ersten Weltkrieg. Auf eine Reaktion musste Jagiello nicht lange warten: „Kurz danach besuchte uns der russische Konsul in Polen“, erzählt er. „Auf dem Friedhof in Witkowice trafen wir zufällig Bundeswehrsoldaten, die gerade deutsche Gräber pflegten. Manche russischen Gräber konnte man dagegen kaum erkennen.“ Seither kümmere sich auch ein russischer Verein um das eine oder andere Gelände.
Aus Moskau sollen nun auch Namenslisten gefallener Soldaten kommen. Unter den 4.000 Gefallenen alleine in Witkowice, 25 Kilometer östlich von Lodz, waren 1.100 Russen. Ihre letzte Ruhe fanden sie auf dem idyllischen Waldfriedhof. Der deutschen Soldaten wird mit einzeln beschrifteten Grabsteinen gedacht, die sich wie an einer Schnur durch das Grün ziehen. An die gefallenen Russen erinnert nur ein einziger Gedenkstein. Mit den Namenslisten könnte bald auch der einzelnen russischen Soldaten gedacht werden.