Vergessen im Land der Steine
Seit einem Vierteljahrhundert schon lebt Bersabe Tanelyan mit ihrer Familie hinter rostigen Stahlwänden. Ihr „Domik“, das „Häuschen“, wie die Container hier auf Russisch heißen, steht in Fontan, einem Stadtteil von Armeniens zweitgrößter Stadt Gyumri. Häuser und Straßennamen gibt es in Fontan nur wenige, dafür rund 500 Stahlcontainer, scheinbar planlos nebeneinander aufgestellt, dazwischen schlammige Wege und Trampelpfade, über denen Wäscheleinen im Wind schaukeln. Hier und dort ein kleiner Gartenzaun, dahinter Kräuter- und Gemüsebeete: Die Menschen haben sich eingerichtet in dem Containerdorf, das vor 25 Jahren als Provisorium errichtet wurde.
Als am Morgen des 7. Dezember 1988 die Erde bebte in Armenien, damals noch Teil der Sowjetunion, fielen vor allem die schlecht gebauten Häuser aus den 50er und 60er Jahren in sich zusammen wie Kartenhäuser. Geschätzt 25.000 Menschen starben, Hunderttausende wurden obdachlos. Das Epizentrum des Bebens lag unweit von Spitak, einer Kleinstadt rund 40 Kilometer von Gyumri entfernt. In der 150.000-Einwohner-Stadt waren die meisten Toten zu beklagen.
Genau 25 Jahre später leben in dem Container mit Anbau der Familie Tanelyan sechs Personen auf 60 Quadratmetern: eine von Bersabes Töchtern, eine Schwiegertochter, drei Enkel und sie selbst. Fließendes Wasser gibt es nicht, das muss aus einem hundert Meter entfernten Brunnen herangeschleppt werden. Bersabe bezieht eine schmale Rente: 24.000 Dram, rund 45 Euro im Monat. „Das geht aber komplett für die Strom- und Gas-Rechnung drauf“, erzählt die energische 70-Jährige mit der grauen Kurzhaarfrisur.
Seit Jahren verspricht die Regierung neue Wohnungen
Auf staatliche Unterstützung hofft im Containerdorf schon lange niemand mehr. Immer wieder hat die armenische Regierung unter Präsident Sersch Sargsyan in den vergangenen Jahren versprochen, die Familien würden umgesiedelt in neu gebaute Wohnungen - aber: Nichts sei passiert, klagt Bersabe Tanelyan, „alles leere Wahlversprechen!“
Geschätzt 4.500 Familien leben alleine in Gyumri nach wie vor in Containern oder halb zerstörten Häusern. Abenteuerlich klingt da der wirtschaftliche „Masterplan“, den die Regierung für die Stadt entworfen hat. „Gyumri soll eine ,Techno-City’ werden“, das IT-Zentrum des Südkaukasus, kündigt der ehemalige Wirtschaftsminister und heutige Vizepräsident der armenischen Zentralbank, Nerses Jeritsyan, vollmundig an.
Tatsächlich prangt ein entsprechender Schriftzug auf einer brüchigen Mauer im Süden Gyumris: „Gyumri Technopark“ ist dort zu lesen. Hinter der Mauer bröckeln jedoch seit dem Erdbeben Industrieruinen vor sich hin. Die deutliche Kluft zwischen hochtrabenden politischen Plänen und trauriger Realität sei typisch für Armenien, erklärt der politische Analyst Boris Navasardyan aus Jerewan: „Unrealistische Pläne wie die in Gyumri sind reine PR für ausländische Partner.“ Ein Großteil der finanziellen Unterstützung etwa durch die EU lande am Ende in dunklen Kanälen.
„Einige wenige Oligarchen haben das gesamte Land, all seine Wirtschaftsbranchen fein säuberlich unter sich aufgeteilt“, sagt Navasardyan. Der Präsident fungiere lediglich als Moderator, „und solange er das gut macht, garantieren seine Fürsten ihm den Wahlsieg.“ Wenn wirklich etwas entsteht, das Substanz hat und von Dauer ist, dann stecken laut Boris Navasardyan fast immer reiche Exil-Armenier dahinter.
Der Winter kommt, doch für Brennholz reicht das Geld nicht
Tatsächlich machen Finanzmittel, die von außen ins Land gepumpt werden, geschätzt ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts von rund zehn Milliarden Dollar aus. In Armenien leben heute rund drei Millionen Menschen, und alleine in Russland sollen weit über zwei Millionen Armenier leben. Auch Bersabe Tanelyans Söhne arbeiten regelmäßig auf russischen Baustellen, um ihre Familien zu ernähren – „für einen Hungerlohn, 200 Dollar pro Monat oder weniger“, erzählt sie bitter.
Der lange, harte Winter hat in den Bergen des Südkaukasus längst begonnen, und Familie Tanelyan hat bis jetzt noch immer nicht genug Brennholz bunkern können, das Geld dafür reicht einfach nicht. Holz ist Mangelware in Armenien, dem „Land der Steine“, wie die Armenier ihre Heimat nennen. „Wir können uns hier nichts aufbauen, wir können aber auch nicht weg von hier“, sagt Bersabe resigniert. „Was ist das für eine Perspektive?“