Die Rückkehr der Revolution
Die Ukrainer nennen den Unabhängigkeitsplatz im Herzen Kiews kurz Maidan – den Platz. Seit neun Jahren hat das Wort jedoch eine weitere Bedeutung. Im November 2004 strömten Hunderttausende auf den Maidan, um gegen Fälschungen bei der Präsidentenwahl zu protestieren. Sie entfesselten eine Revolution, die im Zeichen der Farbe Orange stand. Das Ziel waren demokratische Reformen und eine Annäherung an den Westen. Die Wortführerin hieß Julia Timoschenko. Ihr Gegner war der Wahlfälscher Viktor Janukowitsch.
Der Gang der Geschichte ist bekannt: Die Revolutionäre triumphierten, aber Timoschenko verspielte den Sieg aus persönlichem Ehrgeiz. Janukowitsch eroberte 2010 die Macht zurück und ließ Timoschenko ins Gefängnis werfen. Den Geist der freiheitlichen Revolte konnte der autoritäre Präsident allerdings nicht wieder einsperren. Für diesen Geist steht seit 2004 das Wort Maidan.
Ihre Farbe ist dieses Mal das Blau der Europäischen Union
Seit dem vergangenen Donnerstag ist das Wort in der Ukraine wieder in aller Munde, und mit dem Begriff ist auch die revolutionäre Stimmung zurückgekehrt. An diesem Tag hat Janukowitsch den ausgehandelten Vertrag mit der EU platzen lassen – auf russischen Druck hin und weil Brüssel Timoschenkos Freilassung forderte.
In Kiew und vielen anderen Städten des Landes versammeln sich nun die Menschen, um gegen die Kehrtwende des Präsidenten zu protestieren. Ihre Farbe ist diesmal nicht Orange, sondern das Blau der Europäischen Union. „Euro-Maidan“, lautet die Losung zwischen Lemberg und Odessa. „Wir wollen nicht nach Europa. Wir sind Europa!“, steht auf den Transparenten der Demonstranten. Oppositionsführer wie der Boxweltmeister Vitali Klitschko sagen der Regierung den Kampf an: „Wir werden Druck machen. Wir werden alles tun, damit die Ukraine das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnet. So lange bleiben wir hier.“
Gewalt gegen Demonstranten
Am Sonntag strömten bis zu 100.000 Menschen in Kiew zum Euro-Maidan, zunächst auf den Unabhängigkeitsplatz, später auf den nahen Europaplatz. Schließlich zogen die Demonstranten vor den Regierungssitz und lieferten sich Scharmützel mit schwer bewaffneten Sicherheitskräften. Die Polizei griff mit Tränengas an und prügelte mit Schlagstöcken auf die Protestierer ein. Die Empörung im Land über die „Rückkehr nach Russland“, von der die Regierung spricht, ist groß. Sängerin Ruslana, die im Revolutionsjahr 2004 den Eurovision Song Contest gewonnen hatte, rief ihre Fans im Internet dazu auf, sich dem Euro-Maidan anzuschließen. „Wenn der russische Präsident Wladimir Putin die Ukraine für sich gewinnt, verlieren wir alles“, schrieb sie. Längst gibt es bei Twitter und Facebook einen Hashtag „euroMaidan“. Über dieses Schlagwort vernetzen sich die Revolutionäre.
Am Montag setzten in Kiew zunächst nur rund 1.000 Menschen den Euro-Maidan fort. Sie haben trotz strömenden Regens wie 2004 Zelte errichtet und wollen zumindest bis zum Gipfel in Vilnius am Donnerstag und Freitag in der Novemberkälte ausharren. Polizisten der berüchtigten Sondereinheit Berkut bildeten am Montag die martialische Kulisse. Alle trugen Helme, Knüppel, schwere Stiefel und Westen, manche von ihnen Gasmasken. Schon am Vormittag schlugen sie wieder auf einige Demonstranten ein, die auf den Regierungssitz vorrücken. Für den Abend hatte die Opposition zu erneuten Massenprotesten aufgerufen.