Ungarn

Obdachlose in Budapest leben in Angst

Betteln? Das wäre unter ihrer Würde. „Das habe ich noch nie gemacht!“, sagt Zsuzsanna Lakatos, 58, entrüstet. Die ehemalige Buchhalterin ist seit zwei Jahrzehnten obdachlos und lebt mit ihrem Mann Bertalan in einer winzigen ausgebesserten Gebäuderuine in einem Budapester Außenbezirk. Die Eheleute verdienen ihr Geld mit Gelegenheitsjobs, sie helfen bei Umzügen, beim Renovieren, bei Gartenarbeiten.

Früher war auch der Sperrmüll eine kleine, aber regelmäßige Einkommensquelle für die beiden. Sie suchten darin brauchbare Gegenstände, reparierten, putzten und verkauften sie auf Märkten. Inzwischen sind sie vorsichtig geworden. Wenn sie irgendwo Polizisten oder Aufsichtsbeamte der Stadtverwaltung sehen, sammeln sie keinen Sperrmüll mehr – denn das ist strafbar.

Seit Jahresanfang gilt in Ungarn ein neues Müllgesetz. Einer Bestimmung zufolge ist Sperrmüll auf öffentlichen Flächen Eigentum dessen, der ihn offiziell beseitigt. Wer unbefugt Sperrmüll mitnimmt, begeht Diebstahl und muss mit einer Geld- oder Gefängnisstrafe rechnen – eine Regelung, die sich speziell gegen die vielen obdachlosen Sperrmüllsammler richtet.


Parks, Brücken, das Donau-Ufer sind tabu

Inzwischen kommt es für Obdachlose in Ungarn noch schlimmer: Ende September verabschiedete das Parlament in Budapest ein Gesetz, das es Obdachlosen verbietet, sich auf bestimmten öffentlichen Flächen in „lebensführender Weise“ aufzuhalten. Das Aufenthaltsverbot betrifft alle Flächen, die zum Weltkulturerbe Ungarns gehören, sowie alle öffentlichen Flächen, die von den jeweils zuständigen Gemeinde- oder Stadträten nach deren eigenem Ermessen zu Verbotszonen für Obdachlose erklärt werden.

Von diesem Ermessenspielraum macht die Budapester Stadtverwaltung unter ihrem Bürgermeister Istvan Tarlos, der zur Partei des Regierungschefs Viktor Orban gehört, inzwischen großzügigen Gebrauch: Mitte November verabschiedete sie ein Aufenthaltsverbot für Obdachlose, das neben den Weltkulturerbe-Stätten auch für Teile des Donau-Ufers, Parks, Brücken, Unterführungen, Spielplätze, die Umgebung von Kindergärten und Universitäten, Friedhöfe und Haltestellen öffentlicher Nahverkehrsmittel gilt. Die Verordnung wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit verabschiedet, nachdem zuvor Demonstranten die Arbeit der Budapester Stadtverordnetenversammlung lahmgelegt hatten.

Obdachlose, die gegen ein Aufenthaltsverbot verstoßen, können mit Geldstrafen, gemeinnütziger Arbeit oder mit Gefängnis bestraft werden. Das Gesetz ist eine Neuauflage einer fast identischen Regelung, die bereits vor einem Jahr vom ungarischen Verfassungsgericht als grundgesetzwidrig erklärt wurde. Es trat am Dienstag dieser Woche in Kraft.


Es fehlt an Heimplätzen

„Nun wird Obdachlosigkeit praktisch an sich unter Strafe gestellt“, sagt Tessza Udvarhelyi von der Obdachlosen-Initiative „Die Stadt gehört allen!“ (A varos mindenkie!). „Die Regierung hat versprochen, dass alle Obdachlosen Unterkünfte in Heimen erhalten, aber diese Heimplätze gibt es nicht.“ Etwa 10.000 bis 15.000 Obdachlose leben nach Schätzungen von Hilfsorganisationen in der Zwei-Millionen-Metropole Budapest, dem stehen nur etwa 6.000 Unterkünfte in Heimen gegenüber.

Der prominente Methodistenpfarrer Gabor Ivanyi kümmert sich seit zwei Jahrzehnten um Obdachlose in Ungarn, im Achten Bezirk Budapests betreibt seine Kirche eine Armenküche und ein Obdachlosenheim, das ständig überfüllt ist. „Das neue Gesetz gegen die Obdachlosen ist zutiefst unchristlich“, sagt Ivanyi, „so wie auch überhaupt das Vorgehen der Behörden. Sie schicken uns ständig Polizeistreifen zum Heim und schikanieren die Leute, auch, wenn sie nur nach Essen anstehen.“

Ungarische Regierungsvertreter verwahren sich gegen solche Kritik. „Es ist haarsträubender Unsinn von einer Kriminalisierung der Obdachlosigkeit zu sprechen“, sagt der Staatssekretär im Außenministerium Gergely Pröhle. „Wir möchten nur nicht, dass Obdachlose an bestimmten öffentlichen Orten leben, die touristisch gut besucht sind, das ist doch völlig legitim.“


Die Polizei schikaniert Obdachlose

Aktivisten des Vereins „Die Stadt gehört allen!“ berichten derzeit von verstärkten Polizeikontrollen gegen Obdachlose. Auch Zsuzsanna Lakatos berichtet von Schikanen gegen Bekannte. Sie selbst und ihren Mann hat es bisher noch nicht getroffen. Was auch daran liegt, dass sie mit ihrem Mann im äußersten Südwesten von Budapest lebt, weitab der Verbotszonen und auf einem privaten Gelände, mit Genehmigung des Besitzers.

Die Eheleute kamen 1992 aus Ostungarn nach Budapest. Zsuzsanna Lakatos hatte als Buchhalterin im Stahlkombinat der Stadt Miskolc gearbeitet, ihr Mann war Hilfsarbeiter in einem Landwirtschaftsbetrieb gewesen. 1991 wurden beide arbeits-, dann obdachlos.

Jetzt haben Zsuzsanna und Bertalan Lakatos Angst. „Ich hoffe, wir bekommen keine Geldstrafen oder Gefängnis“, sagt Zsuzsanna Lakatos. „Wir werden versuchen, einfach so weit wie möglich abzutauchen.“

Ist es nicht das, was die Regierung mit dem neuen Gesetz bezwecken will? „Ja“, sagt Zsuzsanna Lakatos.


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