Polen

„Mach die Deutschen blind“: Roma-Dichterin Papusza

Den Tag, an dem sie anfing schreiben zu lernen, wird Papusza nie vergessen, sagt sie und lächelt dabei (auf der Tonaufnahme hört man dieses Lächeln ganz deutlich). 

Die Mutter weckte sie „genau mit der Sonne“. Die kleine Papusza stand auf, ging aus dem Zelt nach draußen und glättete ihren zerknitterten Rock. Sie kann sich nicht erinnern, ob ihr an diesem Tag die Mutter die Zöpfe geflochten hat. Und ob sie ihr über den Kopf gestreichelt hat. (Obwohl es eigentlich keine Zärtlichkeiten gab. „Sie hatte es zu schwer, um mich, die Älteste, an sich zu drücken.“) Papusza erinnert sich, dass sich die Mutter vor sie stellte und zwei Mal sagte: „Du darfst dir keine Gelegenheit entgehen lassen. Eine Zigeunerin darf nicht mit leeren Händen zum Lager zurückkehren.“ Sie spürte, dass das hieß: Sei gerissen und durchtrieben.


Am 15. November um 19 Uhr liest Angelika Kuzniak aus ihrem Reportageband in der deutsch-polnischen Buchhandlung Buchbund in Berlin.

ostpol ist Medienpartner der Veranstaltungsreihe „Reportagen ohne Grenzen“.


Gott schuf die Männer an einem Sonntag

Papusza bindet eine Schürze über den Rock. Sie hat sie selbst genäht, mit Kreuzstich. Unter ihr baumeln die noch leeren „Diebestaschen“. Alles, um sich zu schützen; man muss die Beute von der Schürze trennen. Von der Taille abwärts ist eine Frau unrein. Unrein wird auch alles, was sie berührt, und sei es nur mit ihrem Rockzipfel. Papuszas verunreinigende Kraft wirkt noch nicht (sie ist erst zehn, vielleicht zwölf Jahre alt), doch es ist besser, sich abzusichern.

Im Lager bleiben die Alten und Kinder zurück. Und die Männer. Man sagt, dass Gott sie an einem Sonntag schuf. Und auch noch mit Armen, die verschieden lang sind; sie brauchen nur beide zur linken Seite auszustrecken, und es stellt sich heraus, dass der rechte Arm gerade mal bis zum Ellbogen des linken reicht. Ist doch klar: Mit solchen Armen kann man nicht arbeiten. Es hängt von der Schläue der Zigeunerinnen ab, ob es etwas für den Kochtopf gibt. 

Grodno. Ein paar Kilometer zu Fuß vom Lager entfernt. In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts war es ein recht großer Ort. Fast sechzigtausend Einwohner (sechzig Prozent Polen, siebenunddreißig Prozent Juden, drei Prozent Weißrussen). Hier gibt es Telefone, Elektrizität (seit 1912) und eine Eisenbrücke (1909), ein paar Schulen, ein Theater, eine russisch-orthodoxe Kirche aus dem zwölften Jahrhundert, eine Pfarrkirche, zwei Festungen und eine Synagoge.


Wahrsagerinnen, Tanzbären und Hühneraugensalbe

Auf dem Markt war furchtbares Gedränge. Rufe, Schreie. Es wurde mit allem Möglichen gehandelt. Mit Marienfiguren und Jesussen nebst Aposteln. Mit Sonnenblumenkernen, Hühneraugensalben, Kienspan, Schuhwichse, Töpfen, Schleifsteinen und Talgkerzen. Man konnte Bastschuhe, Kartoffelkörbe und sogar Stühle kaufen. Man konnte sich an Ort und Stelle einen Zahn ziehen lassen (davon gibt es Fotos in den Archiven). Jemand erzählte auf dem Markt Geschichten; von Räubern, Drachen und bösen Kindern, die ihre Mutter verjagten. Zigeunerinnen lasen aus den Karten oder aus der Hand, was am nächsten Tag passieren würde, in zehn Jahren, in hundert. Sie sahen die Vergangenheit, die guten und die bösen Taten. Sie zeichneten auf den Händen ihrer Kundinnen das Kreuzzeichen mit der Münze, die sie von ihnen bekommen hatten und sagten: „Die ganze Wahrheit kennt Gott allein, und die Zigeunerin so viel, wie in den Karten steht.“

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Bronislawa Wajs, genannt Papusza wurde
um 1908 bei Lublin geboren. 

Papusza war geschickt, schnell füllte sie ihre Taschen. Äpfel, Kartoffeln, ein bisschen Tabak. Nichts Großes, aber – was ihr erst nach der Rückkehr ins Lager klar wurde – es reichte, um vom Stiefvater nicht verdroschen zu werden. Sie trieb sich an den Ständen herum. Sprach mit jedem Straßenköter, den sie auf dem Weg traf. Mitten auf dem Marktplatz tanzte ein Bär auf den Hinterpfoten. Seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts, als man den Bärenführern verboten hatte, die Stadt zu betreten, war das ein seltener Anblick. Die Akademie in Smorgon, wo sie früher dressiert wurden, war auch schon geschlossen. (Statt des Bodens gab es dort in einem Raum einen Kachelofen, der so aufgeheizt war, dass er rot glühte. Der Zigeuner führte den Bären hinein und fing an, Geige zu spielen. Der Bär, der sich an den Vorderpfoten verbrannte, stellte sich auf die Hinterpfoten, die mit Lappen umwickelt waren.)

Dass man in der Schule Buchstaben lernen kann, davon hatte Papusza schon früher gehört. Aber erst an diesem Tag sah sie Kinder mit Büchern und rannte ihnen hinterher. „Verjagt haben sie mich. Diebin, haben sie gesagt, die Pest. Nicht alle Leut sind edelmütig. Und vor dem, was man hört, kann man nicht weglaufen. Und auch nicht vor dem, was man sieht. Das geht von selbst in die Ohren und Augen rein. Was sollt ich machen? Hab in Demut ertragen und gelitten.“ Einen halben Tag stand sie vor den Fenstern der Schule. „Und als die Kinder rausgekommen sind, da hab ich mein Mut zusammengenommen und sie gebeten, dass sie mir zeigen ein paar Buchstaben.“ Sie waren einverstanden, aber nicht ohne Bezahlung.


Ein Hühnchen - eine Lektion

Papusza hatte das Stehlen ganz normal gelernt. Bei ihrer Mutter. Eine einfache Sache. „Man wirft mit der linken Hand Korn oder Brotkrümel neben die eigenen Füße und ruft gleichzeitig die Hühner herbei. Wenn die Schar herankommt und mit dem Fressen beschäftigt ist, greift die Zigeunerin mit einer entschiedenen, blitzschnellen Bewegung der rechten Hand nach dem Tier, das ihr am nächsten ist. Der Griff erfolgt von oben, an den Hals, in der Nähe des Kopfes, wobei das Huhn gleichzeitig zur Erde gedrückt wird. Der an der Gurgel gepackte Vogel wandert in ein vorher vorbereitetes Versteck und wenn der Täter will, greift er nach dem nächsten Stück, da das mit Fressen beschäftigte Hühnervolk die drohende Gefahr nicht bemerkt. Auch das bereits gefangene Tier schlägt keinen Alarm.“ (So wurde das 1964 in den Akten der Staatsanwaltschaft beschrieben.) 

Papusza war vier Jahre alt, als sie zum ersten Mal ein Huhn tötete. „Ich hab mir ein Bündel geschnürt, Mutter die Karten gestohlen, bin vier Kilometer gelaufen und hab mich verirrt. Irgendein Bauer hat mich gefunden und mich auf dem Wagen bis zum Dorf mitgenommen. Ich schau; auf seinem Hof laufen Hühner herum. Da hab ich mir eins geschnappt, hab es eng in ein großen Lappen gewickelt und da ist es erstickt.“ „Denn die Ordnung der Welt ist einfach“, erklärt Papusza. „Was auf dem Feld wächst, das hat der Herrgott gesät, und was scharrt und schnattert, gedeiht nach dem Willen Gottes für alle Menschen. Der Herrgott hat viele Hühnchen geschaffen und für die Zigeuner reicht es auch.“ Ein Hühnchen – eine Lektion.

Papusza wartete jeden Tag vor der Schule auf die Kinder. Danach schrieb sie mit einem Stock im Sand oder mit einem verrußten Holzstückchen auf Zeitungen: A, b, c und den Rest der Buchstaben. Wie in einer Fibel. So ging es ein paar Tage lang, bis es den Kindern langweilig wurde. Da erinnerte sie sich an einen Laden nicht weit vom Markt, wo sie manchmal Süßigkeiten kaufte. Ein dunkler, langer Korridor, kaum Licht, wie an der Eingangstür. Hinter dem Tresen die Ladenbesitzerin, eine Jüdin. „Ich bin mit einer Zeitung zu ihr gegangen und hab sie gebeten: ‚Zeig mir, Frau, wie man liest.‘ Sie hat gesagt, ich soll ein fettes Huhn für den Schabbat mitbringen und eine Fibel kaufen.“


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Dort wo sie früher waren - Leichen

„Wir haben uns in den Sümpfen versteckt, in der Nähe von Sztun. Das ganze Zigeunerlager. Stunden haben wir im Wasser gestanden, wie verschreckte Tiere, dreckig, waren selbst wie aus Schlamm. Die Mücken haben uns die Augen ausgefressen. Kein einziges Vögelchen war zu hören. Nichts. Wir auch ganz still, jeder hatte Angst zu sprechen. Nur das Sumpfwasser schwappte hin und her – wie eine Schaukel. Dyzko hat mir gezeigt, wie man sich versteckt. Er hat gesagt, ich soll in die Hocke gehen und hat mir Gras auf den Kopf gelegt. Andere Zigeuner haben ganz oben auf den Fichten gesessen, mit Schnüren angebunden, damit man sie nicht umbringt.“

Und was denkt ihr, ihr Leut?
Werden hundert Menschen ihr Leben retten heut?

„Für die Nacht hat Dyzko eine Grube gegraben, hat Zweige angeschleppt, im Sommer trockenes Moos. Als Krieg war, habe ich ganze Nächte nicht geschlafen. In den Dörfern haben die Menschen wie Tiere gebrüllt. Ich habe mir die Ohren zugehalten, Erde reingestopft, nichts hat geholfen.“

Und diese Scharen von Eulen
Wie Wolfsvögel

„Am schlimmsten war der Hunger. Wenn man was trinken wollte und es war nichts da, hat man das Wasser von den Blättern getrunken oder im Winter die Eiszapfen abgebrochen. Aber dem Hunger kann man nicht entkommen. Ich bin in die Dörfer gegangen, um etwas zu holen. Mit einem Sack auf dem Rücken durch die Sümpfe. Hab mit dem Stock den Weg erkundet.“

Hühner laufen irre durch den Wald,
Katzen weinen, die Augen der Kühe leblos und kalt

„So weit das Auge reichte, verbrannte Häuser, Zäune. Die Pforten nicht mehr da. Dort, wo sie früher waren – Leichen. Auf den Gehöften verstreute Töpfe, zerrissene Federbetten. Ein umgeworfenes Bettchen. Offene Fenster. Jetzt nur noch Stille." Papusza schlich um die Häuser herum. „Ich habe die Reste von Kartoffeln und Zwiebeln aufgesammelt. In Kellern gesucht. Überall geschaut.“ Oft kam sie mit leeren Händen zurück. „Der Wald hat uns geholfen zu überleben. Kräuter, Beeren, Baumrinde. Und wenn es nichts gegeben hat, haben Dyzko und ich Gras gegessen bis die Erde nackt war.“ [...]

Die Lumpen fallen ab, der Körper nackt im Verderben 
du schaust und verstehst nicht und willst nur noch sterben.


Eine Harfe hat uns vor den Deutschen gerettet

„Es hat Tage gegeben, da hab ich nur gebetet: ‚Gott, gib mir das Leben eines Hundes’, weil für mich sogar das mehr wert gewesen ist.“ Mit der Zeit wurde es immer schlimmer. (Welches Jahr war das? Wo? Nichts. Leere.) Winter. Die Temperatur sank weit unter Null. Es wurde schnell kalt. Also saßen sie nah beieinander. Ohne die übliche Trennung. Die Frauen neben den Männern, auch die Kinder. So war es wärmer. Wenn die Läuse nicht gewesen wären, hätten sie, ohne sich zu bewegen, die ganze Nacht so ausgeharrt. „Es hat so gejuckt, dass man es nicht aushalten konnte“, sagt Papusza. „So dass du dir die Haut vom Leib kratzen wolltest. Unsere Körper waren voller Grind, die Kleiderfetzen schwer vom Blut.“ Sie suchten sich gegenseitig nach Läusen ab. An manchen Abenden saßen zwanzig Leute in einer Reihe. Sie überlegten, wie es weitergehen sollte. In den Wald – eine andere Idee hatten sie nicht. Sonst gab es schreckliche Neuigkeiten. Nicht weit entfernt hatten angeblich die Deutschen ein ganzes Zigeunerlager mitten auf einen See getrieben. Samt Pferden und Wagen. Das Eis hielt nicht, und alle ertranken. Als die Kinder das hörten, fingen sie an zu weinen.

Eisige Nacht im Wald, still standen die Lärchen.
Zigeunerinnen sangen
alte Zigeunermärchen.
[...]
Ach, du mein guter Stern! [...]
Mach die Deutschen blind!
Verwirre ihre Wege!
Zeig nicht den richtigen Pfad!
Führe sie immer den falschen Weg hinan
Damit das Juden- und Zigeunerkind leben kann.

Papusza: „Die Deutschen und die Ukrainer haben uns ständig gejagt. Aber sie sind nur selten in den Wald reingegangen. Vielleicht hatten sie Angst? Einmal hat uns die Harfe das Leben gerettet. Als wir über Schlaglöcher gefahren sind, ist sie rausgefallen. Wir haben keine Zeit gehabt, um anzuhalten und sie wieder zu holen. In der Ferne haben die Deutschen gestanden. Die haben wohl gedacht, das ist eine Kanone oder so was. Und da hat der Wind über den Weg geweht, hat die Saiten angeschlagen und die Harfe hat gespielt. So schön wie noch nie. Die Deutschen sind erstarrt wie Salzsäulen und haben zugehört. Da haben wir die Harfe genommen und sind geflüchtet.“

Aus dem Polnischen von Joanna Manc

Die angeführten Gedichtzeilen stammen aus Papuszas Gedicht Blutstränen. Sie sind nicht aus dem Original in Romani, sondern aus dem Polnischen übersetzt.

Angelika Kuzniak
Papusza
Wydawnictwo Czarne
ISBN: 978-83-7536-501-6


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