Ruthenen suchen nach ihren Helden
Es war ausgerechnet der Pop-Art-Künstler Andy Warhol, der der ruthenischen Minderheit in Ostslowakei zu einer Wiedergeburt verhalf. Als vor 18 Jahren das Pop-Art Museum im ostslowakischen Medzilaborce öffnete, wurde bekannt, dass Warhol nicht Tscheche, wie bis dahin angenommen, sondern Ruthene war. Diese Nachricht kam im Westen einer Sensation gleich. Denn auf die Frage nach seiner Herkunft hatte der Pop-Art-Künstler in Amerika stets mit „Ich komme von nirgendwo her“ geantwortet. Nun gab es plötzlich eine Antwort auf die Frage nach seiner Herkunft.
So trug Warhol nach seinem Tod zur Bekanntheit der Ruthenen, die durch die politische Wende von 1989 wie Phönix aus der Asche gestiegen waren, bei – so viel wie kein anderer Volksgenosse zuvor. „Andy Warhol hat ungewollt viel für die Ruthenen getan“, sagt der Ethnologe und Schriftsteller Michal Šmajda, der in einem ruthenischen Dorf nicht weit von Medzilaborce lebt. Traurig fügt er hinzu: „Wir brauchen aber Helden aus den eigenen Reihen.“ Das ist heute, 20 Jahre nach der Wiederauferstehung der Minderheit, schwieriger denn je, denn Jahrzehnte der Assimilation haben ihre Spuren hinterlassen.
1945 wurde Podkarpatská Rus (Karpatenrussland), ein Teil des östlichen Siedlungsgebietes der Ruthenen in der Tschechoslowakei, an die Sowjetunion abgegeben. Das einstige Volk von Kutschenhirten mit einer Sprache, die mit dem Slowakischen und dem Ukrainischen verwandt ist, wurde künstlich geteilt: Es gab Dörfer, von denen ein Teil in der Tschechoslowakei blieb und der andere in der Ukraine, als Teilrepublik der Sowjetunion. Nach Stalins Doktrin durften die damaligen Ruthenen in der Tschechoslowakei nur noch als Volk der Ukrainer gelten.
„Viele Ruthenen wollten damals aber keine Ukrainer sein und meldeten sich lieber als Slowaken“, beschreibt der Volksforscher Šmajda die Anfänge der Identitätskrise der Ruthenen. Insgesamt gab es in dem Dreieck Polen, Slowakei, Ukraine nach dem Zweiten Weltkrieg fast 700.000 Ruthenen. Die polnischen Ruthenen wurden wiederum nach dem Zweiten Weltkrieg vom Osten Polens in den Westen umgesiedelt und zwangsassimiliert.
Noch schmerzhafter war für das Karpatenvolk der Verzicht auf den eigenen griechisch-katholischen Glauben. Die unter Rom unierte griechisch-katholische Kirche erkannte dank der Užhoroder Union von 1649 den römischen Papst als Kirchenoberhaupt an und behielt gleichzeitig die altslawische Prozession bei Messen. Die Priester durften ähnlich wie in der russisch-orthodoxen Kirche heiraten. Stalin verbot 1948 die Kirche der Ruthenen und zwang die Menschen mit Gewalt, zum russisch-orthodoxen Glauben zu konvertieren. „Griechisch-katholische Priester, die nicht konvertieren wollten, landeten im Gefängnis. Bischof Gojdič starb dort lange nach Stalins Tod“, erklärt Šmajda, der sich inzwischen mehr als 50 Jahre mit Geschichte der Ruthenen beschäftigt.
Von nun an waren die Ruthenen in der Slowakei nicht nur ukrainisch und ohne eigene Sprache, sondern auch ohne eigenen Glauben und Priester. „Es war ein weiterer Schritt zu unserem Identitätsverlust, manche Gläubige gingen gar nicht mehr in die Kirche und verloren das, was sie immer miteinander verband – die wunderschönen Kirchenlieder, den Chorgesang und viele Kirchenbräuche“, bilanziert Šmajda die Auswirkungen der Assimilierung in den 1950er Jahren auf die ruthenische Minderheit.
Die Ukrainisierung und die Konvertierung zur russisch-orthodoxen Religion führten auf der anderen Seite der Grenze dazu, dass von allen Minderheiten der Slowakei die Ruthenen am stärksten assimiliert wurden. Manche von ihnen wissen noch heute nicht mehr, ob sie Ruthenen oder Ukrainer sind und welche Religion tatsächlich ihr ursprünglicher Glaube war. Nach der Wende von 1989 erlebte das Volk eine Art Wiedergeburt. Man wollte zurück zu den eigenen Wurzeln, zur eigenen Sprache, zum alten Glauben. Doch nur langsam finden die slowakischen Ruthenen den Weg dorthin.
„Im Unterschied zu den Ungarn oder den Polen in der Slowakei haben die Ruthenen keinen eigenen Staat im Rücken“, erklärt der Ruthenenforscher den Rückgang der Zahl der Ruthenen in der Slowakei. „Noch trauriger finde ich die Tatsache, dass viele Ruthenen mit ihren Kindern kein Ruthenisch sprechen“, so Šmajda. Die slowakischen elektronischen Medien tun ihr Übriges: Es gibt zwar eine ruthenische Sendung im slowakischen Rundfunk für die Ostslowakei, das Fernsehen sendet aber nur auf Slowakisch. Šmajda kritisiert die fehlende Unterstützung des slowakischen Staates bei der Einrichtung neuer ruthenischer Medien.
1995 kodifizierte man in der Slowakei das Ruthenische, dessen kyrillische Schrift auch ein paar ukrainische Buchstaben enthält. „Nun haben wir zwar die kodifizierte Sprache, aber nur ein einziges ruthenische Gymnasium im ostslowakischen Prešov und nur zehn Schulen, an denen das Ruthenische unterrichtet wird“, bilanziert Šmajda die heutige Lage seiner Ethnie. Nach der letzten Volkszählung meldeten sich nur etwa 22.000 Bürger der Slowakei als zur ruthenischen Minderheit gehörig. „Dabei gibt es in der Ostslowakei Städte wie Medzilaborce, Humenné oder Snina, deren Bevölkerung fast zur Hälfte ruthenisch ist, sich dazu aber nicht unbedingt bekennt. Das gilt auch für die umliegenden ruthenischen Dörfer“, erklärt Šmajda.
Die nach der Wende verstärkten Bemühungen um den Erhalt der nationalen, religiösen und dörflichen Traditionen des Karpatenvolkes erreichen heute nur wenige junge Ruthenen. Damit verbunden sind zugleich geringere finanzielle Zuwendungen durch den Staat. Denn etwas mehr als 20.000 offiziell gemeldete Ruthenen können nicht ebenso viele Gelder beanspruchen, wie die eine halbe Million große ungarische Minderheit in der Slowakei bekommt. „Der slowakische Vizepremier Čaplovič versprach im Fernsehen mehr Geld für die ruthenische Minderheit. Vor kurzem gründete man im ostslowakischen Prešov ein Museum für ruthenische Kultur. Das ist aber im Vergleich dazu, was man braucht, nur ein Tropfen auf den heißen Stein“, erklärt Šmajda. Nun hofft er auf Hilfe von der EU. Michal Šmajda weiß zugleich, dass die Ruthenen in erster Linie bei sich selbst anfangen sollten. Mehr Ruthenen müssten sich zu ihrer Nation bekennen. „Die Amerikaner mit ruthenischen Vorfahren, die hierher kommen, bekennen sich zu unserer Nation, auch wenn sie kein Ruthenisch sprechen“, sagt Šmajda. „Eines Tages sollen das auch slowakische Ruthenen tun.“