Wir aus Jedwabne
Ich wollte ihr das Leben retten, die Liebe kam später, oder: Die Geschichte von Rachela Finkelsztejn und Stanislaw Ramotowski
„In meinem Kramarzewo“, erzählte mir Ramotowski, „lebten die Menschen ruhig, es gab keine Räuber, keiner ging los, Juden umzubringen. Bis ich eines Tages einen Bekannten treffe, Malinowski aus Czerwonki, der mir sagt, dass die Leute aus den umliegenden Dörfern nach Radzilow wollen, um dieselbe Arbeit zu machen wie vorher in Wasosz. Und was haben sie in Wasosz gemacht? Da sind Bauern mit ihren Pferdewagen bei den jüdischen Häusern vorgefahren und haben Männer, Frauen, Kinder mit Äxten erschlagen. Die Verletzten und Toten haben sie auf die Wagen geladen und aus der Stadt gekarrt. Auf den Straßen war alles voller Blut. Ich bin sofort losgerannt, um die Finkelsztejns zu warnen.“
Am 25. Oktober um 19 Uhr liest Anna Bikont aus ihrem Reportageband in der deutsch-polnischen Buchhandlung Buchbund in Berlin.
ostpol ist Medienpartner der Veranstaltungsreihe „Reportagen ohne Grenzen“.
Die Finkelsztejns hatten in Dziewiecin, also gleich neben Kramarzewo, eine Mühle; ihr Obstgarten grenzte an die Wiese der Ramotowskis. Die Müllerstochter – Rachela – gefiel Ramotowski schon seit Langem. „Sie war zierlich, Zöpfe hatte sie zwei und die Brille trug sie schon seit der Kindheit“, sagte er und blickte seine Frau zärtlich und stolz an. Noch sechzig Jahre nachdem Rachelas wohlwollender Blick auf ihn fiel, ist der hochgewachsene blonde Ramotowski mit seinem klaren Profil und den stets lachenden, großen blauen Augen eine beeindruckende Gestalt. Und Rachela? Ich sehe mir ein altes Foto von ihr an: Typ unauffällige, magere, fleißige Brillenschlange.
Dass die Federn flogen
„Ich habe den Finkelsztejns versprochen“, erzählte er weiter von den Ereignissen des 7. Juli 1941, „hinzufahren und nachzusehen, was im Städtchen los sei. Sie hatten die Juden aus ihren Häusern auf den Marktplatz gezerrt. Ich habe kleine Kinder gesehen; sie hatten sich aneinandergeschmiegt und hielten die Köpfe gesenkt. Die Verbrennung in der Scheune habe ich nicht gesehen, weil ich schnell zurück wollte und die Finkelsztejns sicher verstecken, aber ein bisschen habe ich mitbekommen. Die Polen passten auf den Straßen auf, dass die Juden nicht flohen. Die jüdischen Wohnungen wurden schon geplündert, als die Juden noch auf dem Weg zur Scheune waren.“
„Haben Sie Deutsche gesehen?“„Einen Gendarmen. Er stand auf dem Balkon und fotografierte. Die Deutschen haben weder in Wasosz, noch in Radzilow, noch in Jedwabne beim Morden mitgemacht. Die Polen waren es, die die Juden zusammengetrieben und gejagt haben. Und danach sind sie gleich durch die Häuser gerannt, um zu plündern. Hatten die ihr Gewissen verloren? Da spielte das ganze Volk verrückt, ging in die Wohnungen, riss die Federbetten auf, dass die Federn nur so flogen, der Wind trieb sie vor sich her, und die Leute nahmen ihre Bündel auf den Rücken und rannten nach Hause, um gleich darauf mit einem leeren Sack wiederzukommen.“
Rachela oder Marysia
„Männer?“„Zum überwiegendenden Teil, aber Frauen habe ich auch gesehen, nur weniger.“„Und Kinder?“„Die Kinder, die was tragen konnten, haben es gerne mitgenommen. Eine ganze Menge Menschen war dabei, nur wo Gott war, das weiß ich nicht.“„Wo haben Sie die Finkelsztejns versteckt?“ „Im Roggen. Später habe ich bei meiner Mutter zwischen Ofen und Wand mit Brettern ein Versteck für Rachela gebaut, und nicht weit entfernt ein zweites Versteck für ihre Familie: ihre Mutter Sara, ihren Bruder Szabs, ihre Schwester Matilda und deren zwei Kinder: Icchak mit dem lahmen Bein und den kleineren Hewel.
Meine Mutter hat den Nachbarn nichts gesagt, aber sie ist zu Mazurek gegangen, um sich Rat zu holen – er war ihr Freund, ein Heilkundiger und in der Stadt sehr geachtet. Er hatte die Idee, dass Marysia – damals noch Rachela – getauft werden und wir beide heiraten sollten. Mazurek war ungemein religiös, man kann fast sagen, frömmlerisch, und wollte Rachela zum christlichen Glauben bringen. Er hat argumentiert, dass sie uns in Ruhe lassen würden, wenn sie getauft wäre. 'Du heiratest sie', hat er gesagt, 'und dann wird sie auf dich eingetragen.'“Kramarzewo gehörte zum Pfarrbezirk Wasosz, und dorthin wollten sie zur Taufe und Hochzeit fahren.
Er: „Ich bin zum Pfarrhaus gegangen, da war eine große Bank, darauf standen fünf Bleche und auf jedem eine Gans zum Braten. Der Pfarrer hat mich gefragt: 'Wie willst du mich bezahlen, jetzt ist doch alles Bargeld nichts wert?'. Und ich: 'Wir haben nichts, Herr Pfarrer.' Er darauf: 'Es können auch Ringe sein oder Ohrringe, aber nur goldene.' Ich habe ihm gesagt, dass das Haus der Finkelsztejns in Dziewiecin völlig ausgeplündert war, dass dort nichts mehr war außer den leeren Fensterhöhlen. Und der Pfarrer: 'Ich gebe dir mal ein Beispiel. Bei uns hier gab es einen armen Juden namens Chaim, der zog immer mit einem Sack durch die Gegend, aber als sie ihm dann die Sense an den Hals gehalten haben...' – hier hat er eine Handbewegung gemacht – 'da stellte sich heraus, dass er doch Dollar hatte, und Gold.' Ich habe gezittert, die Hitze ist mir richtig in den Kopf gestiegen.
Eine Hochzeit für drei Meter Roggen
Er hat gesagt, ich solle in der Diele warten; danach hat er mich nicht mehr hereingebeten, sondern mir nur einen Zettel gegeben, mit dem sollte ich nach Radzilow fahren und dort heiraten. Auf dem Wagen habe ich den Zettel auseinandergefaltet, und darauf stand, die Trauung solle um keinen Preis vollzogen werden. Ich habe den Zettel zusammengeknüllt und weggeworfen.
Ich bin nach Radzilow gefahren, ich musste so schnell wie möglich mit Pfarrer Dolegowski reden, bevor der sich mit dem Pfarrer aus Wasosz absprach. Er saß gerade bei seinem Nachbarn beim Kartenspiel. Das war die Güte in Person, wollte nur im Vorhinein sechs Meter Roggen. Ich habe gesagt, dass die Deutschen für die Ausstellung von Papieren weniger nähmen, zum Schluss ist er auf drei runtergegangen.“
„Ich wusste selbst nicht“, erzählte Ramotowski weiter, „auf was ich mich mit dieser Heirat einließ. Ich habe mich an der Nase herumführen lassen, ansonsten war ich nicht auf den Kopf gefallen, aber da habe ich auf Dümmere gehört. Wir wurden denunziert, das von der Hochzeit machte die Runde, und dann suchte man auch nach mir. Es gab einen Spion, der hat Marysias Familie dem Tod ausgeliefert. Sie haben sie alle mitgenommen, nur Marysia konnte ich vor den Gendarmen retten. Das war eine Fügung des Schicksal, sie sollte leben, dafür war jetzt ich an der Reihe.“
Der Teufel kann in jeden fahren
Ich fragte, wie viele Menschen ihnen geholfen, wie viele von ihnen gewusst hätten. Er: „Am Anfang wussten es in Kramarzewo vier Familien. Sie haben uns nicht geholfen, aber sie wussten es. Als dann Marysias Familie mitgenommen worden war, haben wir uns noch besser versteckt, denn ich glaubte schon keinem mehr. Der Teufel konnte in jeden fahren. Gute Bekannte aus Vorkriegszeiten haben uns aufgenommen, die Laskowskis aus Kramarzewo und die Karpinskis aus Czerwonki. In Konopki hatte ich eine Tante, als wir ankamen, hieß es noch, meine Goldkinder, mein Herzensjunge, aber dann hat sie uns schon in der ersten Nacht gesagt, wir sollten unsere Sachen nehmen und gehen; sie hielt ihre eigene Angst nicht aus, hat uns nicht mal ein Stückchen Brot mit auf den Weg gegeben. Ein anderer Onkel hätte uns wohl aufgenommen, aber sein Sohn war Ortsvorsteher in dem Dorf und hat fürchterlich geschimpft. Am Tag habe ich Geld verdient, habe bei Bekannten, die Bauern waren, auf dem Feld gearbeitet, und abends habe ich Marysia Essen gebracht.“Sie: „Wie viele Male mussten wir im Wald schlafen, in Hohlwegen, in Bunkern, mit den Ratten zur Gesellschaft.“
Gleich nach dem Krieg zogen sie in die Ruine ein, die einmal das Haus der Finkelsztejns gewesen war. Sie bauten die Mühle wieder auf. Er war der Müller, sie führte die Buchhaltung. „Das muss man sagen, sie ließen einen wieder auf die Beine kommen.“ – Ramotowska nickte anerkennend mit dem Kopf. Ich dachte, sie meine die kommunistische Regierung, die ihnen die Mühle hätte wegnehmen können – aber nein, sie meinte die Nachbarn.
Ich fragte, ob in der Stadt nach dem Krieg von dem Verbrechen gesprochen worden sei. Er: „Nur im Stillen oder betrunken. Einmal ist der Pfarrer zum Weihnachtsbesuch zu uns gekommen, er war so dick, dass wir ihn kaum aus dem Schlitten herausbekamen. Ich habe ihn gefragt: 'Stört es Sie nicht, Herr Pfarrer, wenn ein Mörder in dem Pelzmantel von einem Juden zur Kirche kommt?', denn jeder wusste, dass Dziekonski den Pelzmantel von Szlapak trug. Er hat nicht geantwortet. Meine Marysia hat mich ganz erschrocken am Ärmel gezupft.“
Todesurteil wegen einer Eichenholzkredenz
Ich fragte, ob irgendjemand aus Mariannas weiterer Familie überlebt habe. Sie: „Sie sind alle in Treblinka umgekommen. Nur ein Schwager hat überlebt. Nach dem Krieg fand er sich in Schweden wieder; er hat mir von dort aus geschrieben, fragte, ob Frau und Kinder lebten. Ich habe ihm nicht geantwortet.“„Warum nicht?“Sie: „Ich wollte nicht und es ging auch nicht. Den Vater und den Sohn der jüdischen Familie Dorogoj haben sie kurz nach dem Krieg umgebracht. Kosmaczewski und sein Bruder haben sie hinterhältig zu sich gerufen, um zur Versöhnung einen halben Liter mit ihnen zu trinken, und haben sie dann in der Diele mit Beilen erschlagen. Damit es keine Zeugen gab. Wir lebten in Angst und sie haben uns bestohlen, das kam verschiedene Male vor.“
Er: „Ungefähr zwei Jahre nach dem Krieg wollte Marysia die Eichenholzkredenz ihrer Familie zurückkaufen. Sie stand in Rydzewo, bei Chrostowski, der sogar Bäume aus dem Garten der Finkelsztejns ausgegraben und mit zu sich genommen hatte. Und das hat irgendwem nicht gefallen.“Sie: „Jemand hat einen Zettel mit einem Todesurteil an unsere Tür gehängt. Dafür, dass ich für meine eigene Kredenz zahlen wollte. Ich hätte für das Geld eine bessere haben können, aber das war ein Erinnerungsstück an meine Familie. Dunkles Holz, dreiteilig, an den Seiten kleine Türen, in der Mitte zwei Fächer.“
Er: „Damals haben die alten Kollegen von der Heimatarmee das Urteil abgewendet. Irgendwie haben wir überlebt. Aber der Druck war die ganze Zeit da.“„Haben Sie die Kredenz denn später wiederbekommen?“„Ach, woher denn, außerdem wollte ich sie später gar nicht mehr.“Kurz nachdem der Zettel an ihre Tür gehängt wurde, hatte Marianna eine Fehlgeburt. Danach konnte sie keine Kinder mehr bekommen. Ich fragte Herrn Stanislaw, ob man ihm die jüdische Ehefrau übelgenommen habe.„Das kann man so nicht sagen, sie wurde überall geschätzt.“Frau Marianna nickte zustimmend mit dem Kopf.„Ich wurde geschätzt, weil ich mich taufen lassen habe, und die Leute haben mich gegrüßt, wenn ich vorbeikam.“ (...)
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
Anna Bikont
My z Jedwabnego
Wydawnictwo Czarne
ISBN: 978-83-7536-428-6