Belarus

Secondhand-Zeit

AUFZEICHNUNGEN EINER BETEILIGTEN

[...]

Da ist sie – die Freiheit! Hatten wir sie uns so vorgestellt? Wir waren bereit, für unsere Ideale zu sterben. Dafür zu kämpfen. Doch dann begann ein Leben wie bei Tschechow. Ohne große Geschichte. Alle Werte zerstört, bis auf den Wert des Lebens. Des Lebens an sich. Neue Träume: ein Haus bauen, ein schönes Auto kaufen, Stachelbeeren pflanzen … Die Freiheit entpuppte sich als Rehabilitierung des Kleinbürgertums, das im russischen Leben gewöhnlich unterdrückt wurde. Als Freiheit Seiner Majestät Konsum. Als eine Größe der Finsternis. Der Finsternis der Bedürfnisse, der Instinkte – jenes privaten Lebens, von dem wir nur eine ungefähre Vorstellung hatten. Wir haben im gesamten Verlauf unserer Geschichte immer nur überlebt, nie gelebt. Jetzt aber wird die Kriegserfahrung nicht mehr gebraucht, wir mussten sie vergessen. Tausende neue Emotionen, Zustände, Reaktionen … Irgendwie war plötzlich alles anders: die Plakate, die Dinge, das Geld, die Staatsflagge … Auch die Menschen selbst. Sie waren auf einmal farbiger, individueller, der Monolith war gesprengt, das Leben in einzelne Inseln, Atome, Zellen zerfallen. Das große Böse war zu einer fernen Legende geworden, zu einem Politkrimi. Niemand sprach mehr von einer Idee, alle redeten von Krediten, Prozenten und Wechseln, Geld wurde nicht verdient, sondern „gemacht”, „gewonnen”. Ob das von Dauer ist? „Das Bewusstsein vom Unrecht des Geldes ist in der russischen Seele unausrottbar”, schrieb Marina Zwetajewa in ihrem Tagebuch. Doch nun scheint es, als wären die Helden von Ostrowski und Saltykow-Schtschedrin auferstanden und spazierten durch unsere Straßen.


Freiheit ist 100 Wurstsorten

Jeden, mit dem ich sprach, habe ich gefragt: „Was ist Freiheit?” Die Väter antworteten darauf anders als ihre Kinder. Diejenigen, die in der UdSSR geboren wurden, und diejenigen, die nicht in der UdSSR geboren wurden, haben keine gemeinsamen Erfahrungen. Sie sind Menschen von verschiedenen Sternen.

Die Väter: Freiheit ist die Abwesenheit von Angst; die drei Tage im August, als wir den Putsch besiegten; wer im Laden aus hundert Wurstsorten auswählen kann, ist freier als jemand, der nur aus zehn Sorten auswählt; nicht geprügelt werden – aber eine Generation, die nicht geprügelt wurde, wird es bei uns nie geben, der Russe versteht die Freiheit nicht, er braucht Kosaken und die Peitsche.

Die Kinder: Freiheit ist Liebe; innere Freiheit ist ein absoluter Wert; wenn man keine Angst vor seinen Wünschen hat; viel Geld, dann kann man alles haben; wenn man leben kann, ohne sich Gedanken über die Freiheit zu machen. Freiheit ist normal.


Der Unterschied, ob man morgens oder abends spricht

Ich suche nach der Sprache. Der Mensch hat viele Sprachen: die Sprache, in der er mit seinen Kindern spricht, die Sprache der Liebe … und die Sprache, in der wir mit uns selbst reden, die Sprache der inneren Selbstgespräche. Auf der Straße, auf der Arbeitsstelle, auf Reisen – jedes Mal eine andere Sprache, nicht nur die Worte sind verschieden. Es ist sogar ein Unterschied, ob man morgens oder abends spricht. Und was in der Nacht zwischen zwei Menschen geschieht, fehlt in der Geschichtsschreibung ganz. Wir haben es nur mit der Geschichte des Tagmenschen zu tun. Selbstmord ist ein Nachtthema, da steht der Mensch an der Grenze zwischen Sein und Nichtsein. Oder Schlaf. Das möchte ich verstehen, mit der Gründlichkeit des Tagmenschen. Ich wurde gefragt: „Haben Sie keine Angst, dass Sie Gefallen daran finden könnten?”

Wir fahren durch das Gebiet Smolensk. In einem Dorf halten wir vor einem Laden. Was für vertraute, schöne, gute Gesichter (ich bin selbst auf dem Land aufgewachsen) – und was für eine demütigende, bettelarme Existenz. Wir kommen ins Gespräch, reden über das Leben. „Nach der Freiheit fragen Sie? Gehen Sie in unseren Laden, da kriegen Sie jeden Wodka, den Sie wollen: Standard, Gorbatschow, Putinka, und jede Menge Wurst, Käse und Fisch. Sogar Bananen. Was für eine Freiheit brauchen wir noch? Die reicht uns.” „Haben Sie auch Land bekommen?” „Wer soll sich da krummmachen? Wer wollte, konnte Land haben. Bei uns hat nur Waska Krutoi gewollt. Sein Jüngster, er ist erst acht, der läuft schon mit dem Vater hinterm Pflug. Wenn man sich bei dem zum Arbeiten verdingt – da ist nichts mit Klauen oder Pennen. Ein Faschist!”

Bei Dostojewski gibt es einen Streit über die Freiheit. Darüber, dass der Weg zur Freiheit schwierig ist, voller Leid und Tragik … „Warum zum Teufel müssen wir überhaupt erkennen, was gut und böse ist, wenn es uns so teuer zu stehen kommt?” [...]

In den Neunzigern … ja, da waren wir glücklich, zu dieser Naivität von damals können wir nicht mehr zurück. Wir glaubten, die Entscheidung sei gefallen, der Kommunismus hätte ein für alle Mal verloren. Dabei fing alles erst an …


Lenin und Che Guevara

Zwanzig Jahre sind seitdem vergangen … „Mit dem Sozialismus macht ihr uns keine Angst”, sagen die Kinder zu ihren Eltern. Aus einem Gespräch mit einem Unidozenten aus meiner Bekanntschaft: „Ende der neunziger Jahre lachten mir die Studenten ins Gesicht, wenn ich von der Sowjetunion sprach, sie waren überzeugt, dass vor ihnen eine neue Zukunft liege. Jetzt hat sich das Bild gewandelt … Die heutigen Studenten wissen bereits, was Kapitalismus ist, sie haben es zu spüren bekommen: Ungleichheit, Armut, dreist zur Schau getragener Reichtum; sie haben das Leben ihrer Eltern vor Augen, die von dem geplünderten Land nichts abbekommen haben. Sie sind radikal eingestellt. Träumen von ihrer eigenen Revolution. Sie tragen rote T-Shirts mit Bildern von Lenin und Che Guevara.”

In der Gesellschaft gibt es ein neues Bedürfnis nach der Sowjetunion. Nach dem Stalin-Kult. Die Hälfte der jungen Menschen zwischen neunzehn und dreißig hält Stalin für einen „großartigen Politiker”. Ein neuer Stalin-Kult in dem Land, in dem Stalin nicht weniger Menschen vernichtet hat als Hitler? Sowjetisches ist wieder in Mode. „Sowjetische” Cafés mit sowjetischen Namen und sowjetischen Speisen. „Sowjetisches” Konfekt und „sowjetische” Wurst – die so riecht und schmeckt, wie wir es aus unserer Kindheit kennen. Und natürlich „sowjetischer” Wodka. Es gibt Dutzende Fernsehsendungen und Dutzende nostalgische „sowjetische” Internetseiten. Die stalinschen Lager sind Touristenziele geworden. Die Werbung verspricht ein perfektes Erlebnis – inklusive Lagerkleidung und Spitzhacke. Und Besichtigung der restaurierten Baracken. Zum Abschluss gibt es einen Angelausflug …

Veraltete Ideen leben wieder auf: vom großen Imperium, von der „eisernen Hand”, vom „besonderen russischen Weg” … Die sowjetische Hymne ist zurück, es gibt wieder einen Komsomol, nur heißt er jetzt „Die Unseren”, es gibt eine Partei der Macht, die die Kommunistische Partei kopiert. Der Präsident hat die gleiche Macht wie früher der Generalsekretär. Die absolute Macht. Statt Marxismus- Leninismus haben wir jetzt die Orthodoxie …


„Die Zukunft ist nicht mehr an ihrem Platz“

Vor der Revolution von 1917 schrieb Alexander Grin: „Die Zukunft ist nicht mehr an ihrem Platz.” Seitdem sind hundert Jahre vergangen, und wieder ist die Zukunft nicht mehr an ihrem Platz. Wir leben in einer Secondhand-Zeit.

Die Barrikade ist ein gefährlicher Ort für einen Künstler. Eine Falle. Dort verdirbt man sich die Augen, die Pupille verengt sich, die Welt bü.t ihre Farben ein. Dort ist die Welt schwarzweiß. Von dort aus sieht man den Menschen nur noch als schwarzen Punkt, als Zielscheibe. Ich stand mein Leben lang auf Barrikaden, und ich möchte weg davon. Möchte lernen, mich am Leben zu freuen. Wieder normal zu sehen. Aber Zigtausende Menschen gehen erneut auf die Straße. Nehmen sich bei den Händen. Sie tragen weiße Bänder an den Jacken. Ein Symbol der Wiedergeburt. Des Lichts. Und ich gehe mit.

Auf der Straße habe ich junge Leute mit Hammer und Sichel und einem Lenin-Bild auf dem T-Shirt gesehen. Ob sie wissen, was Kommunismus bedeutet?

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt

© Carl Hanser Verlag, München

>> zur Rezension

Swetlana Alexijewitsch: Seconhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus
Übersetzt von Ganna-Maria Braungardt
576 Seiten
ISBN : 978-3-446-24150-3
27,90 Euro


Weitere Artikel