Spurensuche im Osten
Olsztyn (n-ost.)Schmächtig ragt der Kirchturm aus dem zarten Frühlingsgrün des Laubdaches. Die Schieferkacheln der Turmspitze blitzen in der Nachmittagssonne. Doch wer hier eine der für Masuren typischen Kirchen aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts erwartet, wird enttäuscht. Rings um den Kirchturm entfaltet sich ungestört die Schönheit der Natur. Kraniche rufen, eine Weihe segelt elegant über die angrenzenden Magerwiesen, aus der Nähe ertönt der Kuckuck. Wo es Tieren und Pflanzen gut geht, fehlt zumeist der Mensch. So auch hier. Weder Kirchenschiff noch Siedlung umringen den kläglichen Rest dieses evangelischen Gotteshauses im Südosten Masurens.
Heute nimmt Wildnis die ehemalige ostpreußische Kulturlandschaft nordöstlich von Neidenburg, dem heutigen Nidzica, in ihren Besitz. An gleicher Stelle standen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs sieben Ortschaften. Rettkau, Ulleschen, Gartenau oder Malga sind heute von der Landkarte getilgt. Die im Jahr 1939 noch hier lebenden 1246 Bewohner des Amtsbezirks Malga in alle Winde verstreut.
Malga (poln. Małga), dessen Kirchturm nun verlassen, aber unverzagt, gen Himmel ragt, war der größte Ort. 481 Einwohner und 69 Bauernhöfe zählte das Dorf kurz vor Kriegsbeginn. Was die kriegerischen Auseinandersetzen bis 1945 nicht vollbrachten, gelang acht Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs. Die Siedlungen wurden zerstört. Ihre Bewohner vertrieben. Auslöser war das polnische Militär, welches für ihre neu aufzubauende Armee Truppenübungsplätze suchte. Dünn besiedeltes Gebiet, die Nähe zu den zahlreichen Allensteiner Garnisonen und die gute Anbindung nach Warschau gaben schließlich den Ausschlag, dort 1953 ein 50000 Hektar großes Militärareal einzurichten. Muschaken (poln. Muszaki) wurde militärisches Sperrgebiet. Zutritt verboten für zivile Personen.
„Keiner wollte damals sein Haus verlassen“, erzählt die 1925 in Malga geborene Marta Sienkiewicz. In dem vor dem Krieg fast ausschließlich von Deutschen bewohnten Dorf lebten 1953 noch sieben deutsche Familien, ihre ware eine davon. Die Mehrheit stellten Polen und Ukrainer. Mitte März musste sie ihre Sachen packen. Die große Frau knetet ihre durch jahrzehntelange Feldarbeit kräftig und rissig gewordenen Hände. Beim Blick zurück füllen sich ihre Augen hinter der dickrandigen Brille leicht mit Tränen. Sie sitzt am Küchentisch in einem Haus in einer kleinen Ortschaft namens Kot, nur sieben Kilometer von ihrem Geburtsort entfernt. In einem der vielen damals leerstehenden Gebäuden in der Nähe von Malga fand die mit einem polnischen Forstarbeiter verheiratete vierfache Mutter eine neue Heimat. Aus der alten hat sie nur das nötigste an Besitz mitnehmen können. „Kaum hatten wir unsere Häuser verlassen und saßen auf den Lastwagen, wurden die Dächer abgetragen und unsere Häuser auseinander genommen“, erzählt die gelernte Näherin. Die Vertreibung betraf Deutsche, Polen und Ukrainer gleichermaßen. Hoffnung auf eine Rückkehr hatte niemand.
Ganz aus der Welt war ihre frühere Heimat jedoch nicht. „Wenn keine Übungen stattfanden, konnten wir noch manchmal unsere Kühe auf den Wiesen weiden lassen“, sagt sie und ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Nachdem sich die polnische Armee Anfang der 90er Jahre aus dem Übungsgelände zurückzog, ist das Gebiet frei zugänglich. Zu Tage tritt, was lange Zeit verborgen und zumeist streng bewacht war.
Das ist, von ein paar Bunkeranlagen abgesehen, nicht viel. In einem lichten Kiefern- und Birkenwäldchen, notdürftig von einem Holzzaun umgeben, der alte Friedhof von Gartenau. Mehr als zwei Dutzend Gräber sind noch zu sehen. Nahezu alle verwüstet, die Grabsteine umgeworfen, Gräber aufgebrochen und geplündert. „Hier haben in den vergangenen Jahren Grabräuber nach wertvollen Gegenständen in den Särgen gesucht“, erzählt einer der Förster. Zusammen mit seinen Kollegen hat er mit der Umzäunung der Stätte einen halbwegs würdigen Rahmen zu geben versucht, doch gegen die nächtlichen Vandalen war dies augenscheinlich kein probates Mittel.
Auf der Erkundungsfahrt über die von Militärs asphaltierte Straße durch das Gelände weisen alte Straßenschilder mit den polnischen Ortsnamen den Weg. Links und rechts immer wieder ins nichts führende Häusertreppen. Fliedergruppen als Zeugen vormaliger Siedlungsbereiche. Unter hohem Gras versteckt, von Birken bewachsen, Gebäudefundamente. Schließlich führt der Waldweg auf das 1403 vom Deutschen Ritterorden als Teerofen und Hammerwerk gegründete Malga zu. Der Kirchturm unübersehbar. In den zugewucherten Resten des Kirchenschiffs türmen sich die Backsteine und Unrat. Von den unmittelbar neben der Kirche liegenden Gräbern sind alle bis auf eines verwüstet. Auf diesem ist dafür die Inschrift um so deutlicher zu entziffern: „Hier ruht in Gott. Friedrich Baddoreck, gestorben 30.11.1928. Ruhe sanft“. Der Schwiegersohn von Marta Sienkiewicz hat an diesem Grab am Volkstrauertag Kerzen und Blumen aufgestellt. Solche Gesten sind die Ausnahme. Besucher sind selten geworden in diesem Gebiet. Auch die hier geborene Sienkiewicz sieht keinen Grund mehr, dort zurückzukehren. Ab und an begleitet sie so genannte Heimwehtouristen aus Deutschland auf deren Spurensuche in der Vergangenheit. Die Vergeßlichkeit und das Desinteresse der Menschen gereicht der Natur zum Vorteil. Elch, Wolf und Luchs heißen die neuen Bewohner Malgas. Wenig Wunder, dass mit Geldern der Europäischen Union mehrere Naturschutzreservate eingerichtet wurden. Menschen sind dann nicht mehr willkommen, höchstens geduldet.