Im Rollstuhl in den Sejm
Vier schwarz gekleidete, breitschultrige Männer schreiten den Bahnsteig am Warschauer Hauptbahnhof entlang und drängen wartende Menschen zur Seite. Der Zug fährt ein, die Männer legen eine Rampe aus. Der schwarze Trupp bildet eine Gasse: Aus ihr kommt schließlich ein Mann im Rollstuhl gefahren. Umsichtig manövriert er sich und sein elektronisches Gefährt die Rampe hoch und in den Zug hinein. Marek Plura ist der wohl mobilste Rollstuhlfahrer Polens. Sein Beruf: Abgeordneter im Sejm, dem polnischen Parlament.
„Viele verbinden mit einem Rollstuhl noch immer etwas Negatives“, sagt der 42-Jährige, der seit seiner Geburt an einer Muskeldystrophie leidet und stark gebückt in seinem Elektrorolli sitzt. Seit 2011 vertritt Plura in seiner zweiten Amtszeit die Regierungspartei „Bürgerplattform“ (PO) im Warschauer Parlament – und die Situation behinderter Menschen in Polen ist für ihn eine Herzenssache.
Politische Ränkespiele dagegen interessieren ihn weniger. In den andauernden Zwist zwischen konservativem und liberalem Flügel der Tusk-Partei möchte er nicht hineingezogen werden. „Ich bin kein Abgeordneter, der Kontakte zu Wirtschaft und Parteigenossen sucht“, antwortet Plura, der bei jedem Satz nach Luft schnappen muss, was seinen ganzen Körper hochzucken lässt. Er habe immer nah an den Menschen gearbeitet – „mit Menschen, die Probleme im Leben haben“, ergänzt er.
Die sind es auch, die ihn in seinem Abgeordnetenbüro in Chorzow, rund 300 Kilometer südlich von Warschau, aufsuchen. Der kleine Besprechungsraum ist in den oberschlesischen Landesfarben blau und gelb gestrichen. An den Wänden hängen Mitgliedschaftsurkunden, Diplome und eine historische Karte von Oberschlesien – jener Region, die nach dem Ersten Weltkrieg zwischen Polen und Deutschland aufgeteilt wurde und seit 1945 gänzlich polnisch ist.
Ein Familienvater hat einen Termin beim „Pan Posel“, dem „Herrn Abgeordneten“, wie Plura genannt wird. Der Mann bittet um Rat, weil seine Tochter wegen ihres Asperger-Syndroms, einer milden Form von Autismus, von der Schule gehen musste. Die Lehranstalt scheute den erhöhten Betreuungsaufwand für das Kind. Plura hört dem echauffierten Vater geduldig zu und verspricht zu vermitteln.
„Behinderte Kinder sollten nach Möglichkeit gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern zur Schule gehen“, erklärt Plura ein System, das oft mit dem Wort „Inklusion“ beschrieben wird. In Polen herrsche aber noch häufig das Denken vor, dass für behinderte Menschen besondere Verhältnisse geschaffen werden sollten.
Vom Staat bevormundet
So geht nur jeder dritte Erwachsene mit Behinderung einer Beschäftigung nach, ganz gleich, ob Vollzeit oder auch nur zwei Stunden täglich, wie Zahlen des Regierungsbeauftragten für Behindertenfragen belegen. Die gleiche Statistik spricht von rund 4,7 Millionen Menschen mit Behinderung im Land – knapp 12 Prozent der Bevölkerung. Die Ursache für die niedrige Beschäftigungsquote liegt weniger bei den Unternehmen, die ab 25 Beschäftigten verpflichtet sind, auch Menschen mit Behinderung einzustellen, um Strafzahlungen zu entgehen. Sie sei vielmehr auch in der kommunistischen Vergangenheit zu sehen, meint Plura.
„Das sozialistische Regime und der Staat haben sich um jeden gekümmert“, erklärt er. Menschen mit Behinderung wurden vielfach in Spezialeinrichtungen gesteckt, waren damit von der „gesunden“ Gesellschaft isoliert und kaum im öffentlichen Leben wahrnehmbar. „Das damalige System hat zwar Behinderte isoliert, aber zugleich hatten die Menschen eine Sicherheit in sozialen Belangen.“ Plura versteht die Klagen der Nostalgiker, die es auch unter den Polen mit Behinderung gibt. „Man musste sich nicht um eine Arbeitsstelle kümmern. Sie war immer gleich: schlecht“, sagt der 42-Jährige, der diese Zeit eher aus Erzählungen kennt. „Die Menschen wuchsen nicht mit der Erkenntnis auf, dass man mit einer Behinderung auch arbeiten, eine Familie haben und Karriere machen kann.“
Er selbst ist das beste Beispiel dafür, dass es auch anders geht: Neben seinen Pflichten als Volksvertreter kümmert sich der 42-Jährige in Chorzow um seine Familie. Mit seiner Frau Ewa hat er einen Sohn und eine Tochter. Mit der zwölfjährigen Marysia löst er Hausaufgaben, für den siebenjährigen Benjamin macht er den Torwart: „Noch gelingt es mir, ein paar Bälle abzufangen“, per Joystick, so steuert er seinen schweren Elektrorolli. Beide Kinder kommen mit seiner Behinderung gut klar, „sie wurden mit so einem Vater geboren“, erklärt er. Im Kindergarten wurde Marysia gar von anderen beneidet, „ich konnte sie auf dem Wagen mitnehmen, sie musste nicht laufen“, schmunzelt Plura.
Bis zu einem harmonischen Familienleben war es für Marek Plura allerdings ein weiter Weg. Anfang der 1990er Jahre lernten sich Marek und Ewa auf einer Ferienfreizeit kennen, verloren sich aber wieder aus den Augen. 1994 trafen sie sich bei einem Treffen der ökumenischen Taizé-Gemeinde in München zufällig wieder. Vier Jahre später gaben sie sich das Ja-Wort.
Die Anfangszeit sei nicht einfach gewesen, erinnert sich Plura. Bei Ausflügen oder Besuchen auf dem Land hätten die Menschen gelästert: Wie könne eine „normale“ Frau mit einem Mann im Rollstuhl zusammen sein? „Solche Leute tun mir leid – für ihre Ignoranz“, sagt er.
„Hinterbänkler“ im Plenarsaal
Leidvollen Erfahrungen ist Plura auch im Sejm begegnet. Zwar war er 2007 nicht der erste Parlamentarier im Rollstuhl, doch der Plenarsaal und die Parlamentsgebäude waren nicht barrierefrei zugänglich. Erst 2009 wurden Behindertentoiletten und Fahrstühle installiert, und schließlich wurde auch eine Rampe zum Rednerpult im Plenarsaal eingebaut. Für Plura und einen zweiten Fraktionskollegen im Rollstuhl wurden in der letzten Reihe Sitze herausgenommen – so wurden die Rollstuhlfahrer zu „Hinterbänklern“. Zumindest im übertragenen Sinne, denn Ansprachen zu den Abgeordnetenkollegen scheut Marek Plura nicht.
Die eigentliche politische Arbeit, so sagt er, finde sowieso in den beiden Ausschüssen statt, denen er angehört: dem Ausschuss für Sozialpolitik und Familie und dem für nationale und ethnische Minderheiten. Die Grenzen, an denen er sich dabei reibt, haben mit seiner Behinderung nichts zu tun: „Früher kannte ich die Hindernisse von Politikern wie Fraktionsdisziplin oder Koalitionsvereinbarungen nicht. Auch viele Wähler sind sich dieser nicht bewusst. Meine Erwartungen sind bis heute oft größer als das, was letztlich umgesetzt wird“, meint Plura.
Klar sei die Pendelei zwischen Chorzow und der Hauptstadt anstrengend, räumt er ein. Zumal nicht jeder Zug behindertengerecht ausgestattet ist. „Aber dadurch kann ich mich bei jedem Ein- und Aussteigen wie ein echter VIP fühlen – und nicht nur wie ein Abgeordneter im Rollstuhl“, sagt er mit einem Augenzwinkern. Auf dem Bahnsteig in Warschau ruft er den Bahnpolizisten noch ein „To do przyszlego tygodnia“ – „Bis nächste Woche!“ zu, dann schließen sich die Türen.