Polen

Auf der Suche nach dem verlorenen Glauben

Ein stilles Land ist der nordöstliche Zipfel der Wojewodschaft Schlesien. Das verraten schon die Namen der Siedlungen, die hier Koniecpol (Ende der Felder) oder Zalesice (Hinter dem Wald) heißen. Bei Dabrowa Zielona (Grüneichen) blockiert ein Pferdefuhrwerk die Straße. Im August verströmt die Natur in diesem abgeschiedenen Landstrich eine besondere Ruhe. Das milde Licht des Spätsommers liegt über den abgeernteten Äckern und färbt die Strohballen golden.


Die Pilgertour gehört einfach dazu

Und doch erwacht diese stille Welt gerade im August zu ungewohntem Leben. Pilger ziehen durch das Land. Sie vereinigen sich zu Legionen, wie sie sagen: zu Marschgruppen von mehreren tausend Menschen. Militärisch wirken sie allerdings nicht. Sie singen, lachen und schieben Kinderwagen vor sich her. Prediger beten mit der Kraft ihrer Megafone. Oder sie bitten zum Tanz. Vor einer Dorfkirche leitet ein Mönch eine Gruppe Jugendlicher an, die eine Polka proben.

Agnieszka liegt im Gras und schaut zu. Sie ist zu erschöpft, um zu tanzen. „Mir stecken die 200 Kilometer von Warschau in den Knochen“, sagt die junge Frau. 24 Jahre ist sie alt, trägt eine Tätowierung auf dem Oberarm und arbeitet als Verkäuferin in der Warschauer City.

Ihr Ziel und das Ziel aller Legionen ist das Kloster auf dem Hellen Berg in Tschenstochau (polnisch Czestochowa). Genauer gesagt streben die Wallfahrer der legendären Schwarzen Madonna zu. Die Ikone wird in Polen als wichtigste religiöse Reliquie verehrt.
Zu Mariä Himmelfahrt am 15. August erreicht die Saison ihren Höhepunkt. Allein aus Warschau machen sich Zehntausende Menschen auf den Weg. „Wir schlafen in Zelten, manchmal auch in Schulen oder Gemeindehäusern“, erklärt Agnieszka und fügt wenig begeistert hinzu: „Dafür opfere ich meinen Urlaub.“


Wallfahrtsort Tschenstochau

Tschenstochau, 120 Kilometer nordwestlich von Krakau, ist der wichtigste Wallfahrtsort im katholischen Polen. Alljährlich pilgern mehr als drei Millionen Christen aus aller Welt zur berühmten Schwarzen Madonna im Paulinerkloster auf dem Hellen Berg (Jasna Gora).

Die Ikone stammt ursprünglich aus der heutigen Ukraine und wurde im 14. Jahrhundert von Stadtgründer Herzog Wladyslaw II. nach Tschenstochau gebracht. Im 17. Jahrhundert sollen Mönche die Madonna nördlich von Krakau gegen die anrückenden Schweden ins Feld geführt und ihre Heimat erfolgreich verteidigt haben. Kurz darauf erklärte König Kazimierz die Muttergottes zur „Königin Polens“. Mit der Zeit dunkelte das Holz der Ikone stark nach – daher der Name Schwarze Madonna.

Der polnische Papst Johannes Paul II., der im Oktober heiliggesprochen werden soll, pilgerte kurz nach seiner Wahl im Jahr 1978 nach Tschenstochau. Seit vergangenem Frühjahr erinnert daran die weltgrößte Papststatue, die am Rande der Stadt mit ihren rund 230.000 Einwohnern in einem Freizeitpark steht.


Warum tun Menschen das? Wozu gehen sie im August auf Wallfahrt, wenn in Warschau, der boomenden Hauptstadt des Wirtschaftswunderlandes Polen, Freiluft-Festivals aller Art locken? Entspannung und Event ergänzen sich in der Metropole des modernen „Polen A“. So nennen Soziologen und Politiker die erfolgreichen, dynamischen Regionen im Zentrum und im Westen des Landes. Die nordschlesischen Provinzen weiter südlich gehören dagegen zum „Polen B“ der Pferdefuhrwerke und Marienstatuen.


Traditionalisten in der Minderheit

Agnieszka geht „aus Gewohnheit“ auf Wallfahrt, wie sie sagt. „Pilgern gehört zum August wie die Messe zum Sonntag.“ Die junge Frau spricht aus, was Umfragen belegen: Die Religion ist für viele Menschen in Polen, dem katholischsten Staat Europas, von einer Herzensangelegenheit zum Ritual verkommen. Nur noch gut ein Drittel der Christen im Land hält die Wertevorgaben des Vatikans im Alltag für relevant, wie Demoskopen herausgefunden haben.

Es geht auch anders: „Wir halten uns von den großen Warschauer Pilgergruppen fern und folgen unseren eigenen Wegen“, sagt Pater Karl Stehlin. Der Deutsche hat vor 17 Jahren die Pius-Bruderschaft im östlichen Europa organisiert und leitet sie bis heute. Stehlin sagt, er wisse, dass „viele Katholiken uns skeptisch beäugen“. Das ist zurückhaltend formuliert: Die Pius-Bruderschaft gilt innerhalb und außerhalb der Kirche als Hort Ewiggestriger. Die gut 550 Priester der Vereinigung lehnen die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils ab.

„Wir wollen die traditionelle katholische Liturgie bewahren“, erklärt Stehlin. Die schärfsten Kritiker der Bruderschaft sprechen dagegen von Hetze gegen Homosexuelle und Juden. Zusätzlich in Verruf brachte die Brüder der Holocaust-Leugner Richard Williamson. Er wurde 2012 aus der Bruderschaft ausgeschlossen.


Massen-Camp statt Besinnlichkeit

Agnieszka findet die Ideen der Pius-Brüder „befremdlich“. Sie fügt aber hinzu: „Vielleicht haben sie auf ihre Weise recht. Sie suchen wahrscheinlich so etwas wie den wahren Glauben. Wenn es den denn gibt.“ Agnieszka wirkt in diesem kurzen Moment selbst wie eine Suchende.

Warum also pilgern so unterschiedliche Menschen wie die junge Verkäuferin aus Warschau und die Vertreter der Pius-Brüder? „Wir suchen die innere Einkehr im Gebet und die Nähe zu Gott“, sagt Stehlin.

In Tschenstochau findet er eine solche Ruhe nicht. Am Ziel der Wallfahrt vereinigen sich alle Legionen auf dem Hellen Berg zu einem farbenfrohen Heerlager des Glaubens. Vor der Klostermauer kampieren Tausende meist junger Leute. Sie halten die Fahnen ihrer Legion in die Höhe, lauschen den Freiluftmessen, singen und haben schlicht gute Laune. Wenn die Zeit gekommen ist, reihen sich die Pilger in den schmalen Klostergängen auf und rücken Schritt um Schritt vor, auf die Kapelle der Gottesmutter zu und hinein zur Schwarzen Madonna.

Die Stimmung ist auch in der Kapelle wenig andächtig. Viele Wallfahrer machen Handyfotos. Die Gottesmutter hängt in einem Altarraum hinter Gittern. Pater Stehlin nennt die Feiern zu Mariä Himmelfahrt ein „recht originell gestaltetes Happening“. Innere Einkehr zu halten, ist im August in Tschenstochau nicht leicht. Auf dem Hellen Berg herrscht ein Frohsinn, der es mit den Versuchungen der A-Klasse in Warschaus Wirtschaftswunderwelt aufnehmen kann. „Es ist am Ende doch mehr als eine Gewohnheit“, sagt Agnieszka.


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