Ungarn

Obdachlose zeigen Touristen ihr Budapest

Die Gruppe sammelt sich im Fogashaz, einer Einrichtung im jüdischen Viertel von Budapest, halb Kneipe, halb Kulturzentrum. Eine Tour der anderen Art steht an, eine Stadtführung, die in die „Wohnzimmer“ einiger Budapester führt. Es wird ein Rundgang unter freiem Himmel. Angeführt wird er von Attila Takacs, 52 Jahre alt, mächtiger Schnauzer, Pferdeschwanz, Informatik-Diplom – und obdachlos.


Wer draußen schläft, muss Geldstrafen zahlen

Keiner weiß genau, wie viele Obdachlose in Budapest leben. Von etwa 1.600 sprechen die offiziellen Statistiken, die Stiftung „Menhely“ (Asyl) geht von einer fünfstelligen Zahl landesweit aus. Der Organisation zufolge waren in den vergangenen fünf Jahren fast 50.000 Menschen gezwungen, unter freiem Himmel zu schlafen oder eine Notunterkunft aufzusuchen. Aber „Menhely“ unterhält nicht nur mehrere Suppenküchen und Nachtquartiere in der ungarischen Hauptstadt, sondern organisiert auch vier- bis fünfmal jährlich die Stadtführungen mit Obdachlosen.

In ganz Ungarn hat sich die Situation für Obdachlose deutlich verschärft, seit Regierungschef Viktor Orban und seine rechtskonservative Partei Fidesz vor drei Jahren begannen, das Land nach eigenem Gutdünken umzukrempeln. Das Leben unter freiem Himmel wurde mit der neuen Verfassung von 2012 zur Rechtsverletzung. Wer auf Bänken schlief oder herumlungerte, riskierte Geldstrafen von umgerechnet mehreren hundert Euro. Das ungarische Verfassungsgericht verbot eine derartige Kriminalisierung von Obdachlosen, doch Anfang dieses Jahres schlug die Staatsgewalt mit einer erneuten Verfassungsänderung zurück. Massenproteste folgten, an denen sich auch „Menhely“ beteiligte.


Proteste blieben wirkungslos

Allein der Widerstand blieb wirkungslos. Den Spruch der Verfassungsrichter, dass Obdachlosigkeit an sich keine Straftat sein kann, umgeht die Regierung nun, indem sie den Kommunen die Auszeichnung „obdachlosenfreier Zonen“ als verfassungsmäßiges Recht überlässt. „Damit erhält die Jagdgesellschaft auf die untersten Glieder der sozialen Kette ihren Jagdschein“, urteilte danach die deutschsprachige Onlinezeitung „Pester Lloyd“.

Am Fogashaz setzt sich der zehnköpfige Trupp für den Stadtrundgang in Bewegung. Einmal auf die andere Straßenseite, durch die Markthalle des Viertels, dann ein Schwenk in die erste Straße links. Dann der erste Halt. Attila zeigt auf ein leer stehendes Backsteingebäude. „Halb legal, halb illegal“, erzählt er, sei das hier abgelaufen. Hier hatten Obdachlose und Nicht-Obdachlose das Haus zu ihrem Quartier gemacht, haben in bester Hausbesetzer-Manier Ausstellungen und Konzerte organisiert, ein buntes Publikum angezogen. Sogar Nachhilfestunden in Englisch, Spanisch oder Geschichte gab es hier für die benachteiligten Jugendlichen des Viertels, die laut Attila sonst am nahe gelegenen Klauzal ter, dem zentralen Platz des Viertels, herumgelungert und randaliert hätten. „Es war einfach göttlich“, schwärmt der 52-Jährige noch heute.


Gedenktafel in einer Unterführung

Doch es war eben nur halb legal. Das Haus befand sich in Privatbesitz. Irgendwann mussten sie raus. Um auf solche Umstände aufmerksam zu machen, besetzten im Januar dieses Jahres Obdachlose und Sympathisanten ein leerstehendes Haus in der Innenstadt. Die Aktion endete mit der Räumung durch die Polizei.

Weiter geht die Tour zum Blaha Lujza ter, einem der Hauptverkehrspunkte in Budapest. Hier fahren die Straßenbahnen 4 und 6 den Großen Ring hinauf und hinunter, hier verkehrt die Metrolinie 2, hier halten die Busse in Richtung Ostbahnhof, dem wichtigsten Bahnhof der Stadt. Für die Obdachlosen der Stadt ist der Platz eine Art Erinnerungsort. Als die MAV, die ungarische Staatsbahn, 1989 die Unterführungen schloss und den Wohnungslosen so die Möglichkeit nahm, sich dort aufzuhalten, demonstrierten die mit einem Sitzstreik. Dies markierte den Beginn der Stiftung „Menhely“, die hier in der Unterführung eine Gedenktafel in Erinnerung an die Sitzblockade anbringen ließ. Heute sind Obdachlose an Orten wie diesen nicht gerne gesehen.


Die Nachtasyle sind überlaufen

Nach 20 Jahren liberaler Führung zog 2010 Istvan Tarlos ins Budapester Rathaus ein, ein Mann der regierenden Fidesz-Partei. Nach der von Fidesz durchgedrückten erneuten Verfassungsänderung befürchten Attila Takacs und seine Schicksalsgenossen nun weitere Sanktionen für Menschen ohne feste Bleibe. Attila sind allein in Budapests VIII. Bezirk 800 Fälle bekannt, bei denen obdachlose Menschen durch ihren bloßen Aufenthalt auf öffentlichen Plätzen eine Rechtsverletzung begangen haben. Die internationale Obdachlosenorganisation „Feantsa“ berichtet von 2.000 Fällen, die häufig in Arreststrafen mündeten. Die Nachtasyle der Hauptstadt können indes nur einer begrenzten Anzahl Obdach geben. „Da stehen sie dann in der Reihe und wer keinen Platz mehr bekommt, hat Pech gehabt“, erzählt Attila.

Auf welche Ideen die Stadtverwaltung in ihrem Kampf gegen die Wohnungslosen gekommen ist, zeigt Attila am nächsten und letzten Punkt seiner Führung. An einem Geschäft an der Ecke von Stadtring und Wesselényi utca deutet er auf die Heizungsschächte direkt unter dem Schaufenster. Auf diese wurden Rohre angebracht, die keinerlei Funktion erfüllen – außer einer: „Dass sich hier keiner hinlegen kann“, sagt Attila.


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