Streifzug durch das jüdische Riga
Wer mit dem Bus nach Riga kommt, der findet sich gleich nach seiner Ankunft mitten im prallen Leben der lettischen Hauptstadt wieder. Direkt auf der anderen Seite des Stadtkanals liegt der Rigaer Zentralmarkt: fünf riesige Markthallen, die den größten Markt im gesamten Baltikum beherbergen.
Die meisten Touristen zieht es jedoch in die entgegengesetzte Richtung, wo ein Kirchturm die hanseatische Altstadt erkennen lässt. Nur wenige wagen sich weiter nach Osten, hinter den Markt, hinein in die Moskauer Vorstadt. Dort wartet Ieva, eine junge Lettin Anfang zwanzig mit langen blonden Haaren, die erst kürzlich ihr Geschichtsstudium abgeschlossen hat, im Rigaer Ghetto-Museum geduldig auf Besucher.
Wer es in das ehemalige Speicherviertel zwischen Zentralmarkt und Stadtautobahn geschafft hat, dem gibt Ieva eine persönliche Führung durch die Ausstellung. Sie zeigt Fotos von Häusern, in denen einst Juden wohnten, erzählt Geschichten von ihren ehemaligen Bewohnern in der Moskauer Vorstadt, damals wie heute ein eher verrufenes Arbeiterviertel. Wie aber ist es um das Leben der Juden im heutigen Riga bestellt? Ieva denkt nach. „Das ist eine schwierige Frage“, lächelt sie etwas verlegen.
Man kann Riga besuchen, ohne von seinen jüdischen Bewohnern Notiz zu nehmen. Dabei hat Riga mit 9.000 Mitgliedern die größte jüdische Gemeinde im Baltikum. Vor dem Zweiten Weltkrieg und der Besatzung Lettlands durch die Nationalsozialisten waren es gut viermal so viele. Die heute mehr als 100 Jahre alte Synagoge Peitav Shul in der Rigaer Altstadt überstand die Zeit der Besatzung nur, weil die Nazis ein Übergreifen der Flammen auf die Nachbargebäude fürchteten und das Gotteshaus deshalb bei den Pogromen von 1941 verschonten.
Ein Kindergarten, zwei Schulen, ein koscheres Café
In der Synagoge schildert der orthodoxe Rigaer Rabbi Mordechai Glazman, wie das Gemeindeleben wieder aufgeblüht: „Wir haben hier einen jüdischen Kindergarten, zwei Schulen, ein koscheres Café. Es gibt alles, was man für ein jüdisches Leben braucht.“ Noch zu Sowjetzeiten lebten deutlich mehr Juden in Riga als heute, viele von ihnen Einwanderer aus anderen Gebieten der Sowjetunion. Nach 1990 ging ihre Zahl wie die der lettischen Bevölkerung insgesamt zurück, viele wanderten aus. Inzwischen kann man aber von einer Stabilisierung sprechen.
Der in Israel geborene Rabbi Glazman fühlt sich in Riga nach eigenem Bekunden inzwischen zuhause. Russisch, die Muttersprache der Mehrzahl der Gemeindemitglieder, spricht er schon fließend. Überdies, erzählt Glazman, sind „die meisten meiner Kinder in Riga geboren“. Insgesamt zwölf Nachkommen hat der Rabbi, „dank Gott“.
Man meint, ein Lächeln hinter Glazmans vollem Bart zu erkennen, als er von seiner Familie spricht. Wenige Momente später ist seine Stimme jedoch wieder schneidend scharf. „Nein, einen solchen Liberalismus gibt es bei uns sicher nicht“, antwortet Glazman auf die Frage, ob der Nachweis jüdischer Abstammung in bestimmten Fällen lockerer gesehen werden könnte, wie dies beispielsweise in einigen polnischen Gemeinden der Fall ist.
Dass viele Menschen bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion ihre jüdische Herkunft verbargen und erst später begannen, als Juden zu leben, weiß der Rabbiner. Für ihn steht aber unverrückbar fest, dass nur Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat: „Das ist Gottes Gesetz, da gibt es nichts zu diskutieren. Es gibt keine halben Juden. Man kann schließlich auch nicht halb schwanger sein.“
Viele Touristen wollen die Synagoge sehen
Das Gegenbild zum strengen Glazman kann man vor der Synagoge in der Person von Solomon treffen. Der Graphikdesigner, Anfang siebzig, trägt seine weißen Haare zum Pferdeschwanz gebunden, den obersten Knopf seines Hemdes offen. Er raucht eine Zigarette und scherzt mit dem Wachmann. Solomon ist Rigaer in der fünften Generation – einer von wenigen in der Gemeinde.
Geboren wurde Solomon zwar in Russland – „wegen Adolf“, wie er sagt – doch kehrten seine Eltern nach dem Krieg zurück. Deutsch kommt ihm leicht von den Lippen, seine Muttersprache ist Jiddisch, das er in verschiedenen Dialekten beherrscht. So angeregt Solomon sich aber auch mit den Besuchern unterhält: Begeistert über das zunehmende Interesse an der Synagoge ist er nicht. Lieber sähe er sie als einen stillen Ort des Rückzugs: „Es kommen viele Touristen – leider.“
Auf der Karte zeigt Solomon den Weg von der Synagoge zum jüdischen Gemeindezentrum. Dieser führt von der historischen Altstadt in die Neustadt mit ihren reich dekorierten Jugendstilfassaden. Ganz besonders wurde ihr Gesicht geprägt durch den Architekten Michail Eisenstein, Vater des bekannten sowjetischen Regisseurs Sergej Eisenstein. Eisenstein senior kann auch als Sinnbild dienen für das bunte Völkergemisch Rigas an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert: Von seiner Abstammung her deutschbaltischer Jude, nahm er den russisch-orthodoxen Glauben an und emigrierte nach der Oktoberrevolution nach Deutschland.
Nur wenige Meter entfernt von den großen Touristenstraßen befindet sich im Keller des jüdischen Gemeindezentrums das „Lehaim“, das einzige koschere Café der Stadt. Da der Platz für zwei getrennte Küchen für Milch und Fleisch fehlt, wie es die jüdischen Speisegesetze verlangen, werden im „Lehaim“ – „zum Leben“, der hebräische Ausdruck für „Prost“ – keine Milchspeisen serviert. Die Speisekarte vereint traditionell jüdisch-lettische Küche mit Spezialitäten des Nahen Ostens wie Hummus und Falafel.
Aus Israel zurück nach Riga, um eine Familie zu gründen
An einem Tisch des Cafés sitzt der 34-jährige Juri mit seiner Tochter Alina. Oben, am schwarzen Brett des Gemeindezentrums, sucht Juri per Aushang Teilnehmer für einen Kurs in „Selbstverteidigung für Juden“. Das klingt nach Problemen, doch Juri wiegelt ab: Die Situation in Lettland sei friedlich, Juden hätten keine Diskriminierung zu fürchten. Nur die vor nicht allzu langer Zeit gegründete arabische Gemeinschaft in Riga, die behalte man für alle Fälle lieber im Auge.
Die Araber kennt Juri aus Israel, wo er einige Jahre gelebt und in der Armee das Kämpfen gelernt hat. Eigentlich hat er kein schlechtes Bild von ihnen: „In Israel gehen die Leute am Schabbat, wenn die jüdischen Läden geschlossen sind, gerne bei den Arabern einkaufen.“
In seine Heimat Lettland kehrte Juri zurück, um eine Familie zu gründen. Nach seiner Einschätzung tun es ihm viele Leute gleich, die in Israel eine Ausbildung genossen und nun zurückkommen. Juris Beobachtung steht freilich im Gegensatz zu den Statistiken: Noch immer übersteigt die Zahl der Letten, die jährlich das Land verlassen, die derer, die zurückkehren. Doch auch das Leben in Israel ist nicht einfach, findet Juri: „Dort muss man ganz von vorne anfangen.“
Unangenehm aufgefallen ist Juri in Israel eine Frage, die ihm wie anderen Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion immer wieder gestellt wurde: Wann er erfahren habe, dass er Jude ist. Für Juri ist der Fall klar: „Ich fühle mich als Jude, solange ich denken kann.“ Über das, was einen Juden ausmacht, ist er allerdings ganz anderer Ansicht als der Rabbiner seiner Gemeinde: „Meiner Meinung nach kann jeder so viel oder so wenig Jude sein, wie er möchte.“