Auf vergessenen Spuren durch Budapest
Es geht um Mauern bei diesem Spaziergang. Darum, wer dazu gehört und wer nicht, es geht um drinnen und draußen, um Legalität und Illegalität. Anna Lenard steht in der belebten Kiraly-Straße im siebten Budapester Bezirk, dem jüdischen Viertel der ungarischen Hauptstadt, und erzählt. Lebendig und mit enzyklopädischem Wissen berichtet die 39-jährige von den Anfängen des jüdischen Viertels vor 200 Jahren, als Juden nur außerhalb der Budapester Stadtmauern übernachten durften, vom Bau der einst größten Synagoge der Welt, von berühmten Cafes und Lokalen um 1900, von bedeutenden Figuren des jüdischen Lebens in Budapest. Die acht Gäste des Spazierganges hören ihr gespannt zu, sie hat das Talent, ihre Zuhörer auf eine faszinierende Zeitreise mitzunehmen.
Anna Lenard ist bildende Künstlerin. Vor zwei Jahren gründete sie das „Budapester Asphaltprojekt“, eine Initiative, durch die Interessierte die Stadt und ihre Vergangenheit bei so genannten Geschichtsspaziergängen kennenlernen können. Dabei geht es vor allem um die jüngere Geschichte Ungarns: das autoritäre Horthy-Regime der Zwischenkriegszeit, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust, die kommunistische Diktatur – jene Geschichte, die heute in Ungarn vielfach verklärt oder verdrängt wird. Dem will Anna Lenard entgegenwirken. Sie veranstaltet Spaziergänge an historisch bedeutsame, aber oft vergessene Orte in der ungarischen Hauptstadt, erzählt dazu Geschichte und Geschichten und möchte so eine neue Erinnerungskultur begründen.
Architektur und Atmosphäre der Gebäude weckte Neugier
Die Idee zu dem Projekt kam Anna Lenard, als sie vor zwei Jahren eine Wohnung auf dem Budaer Schwabenhügel kaufen wollte. „Ich hatte nur eine kleine Summe, und dafür gab es in der Gegend winzige Wohnungen in ehemaligen Hotels zu kaufen“, erzählt sie. Die Architektur und Atmosphäre der Gebäude weckte ihre Neugier, sie recherchierte die Geschichte des Ensembles. So erfuhr sie, dass dort, im ehemaligen Hotel Majestic, Adolf Eichmann und seine Gestapo-Leute 1944 ihr Hauptquartier hatten und von dort aus den Holocaust an den ungarischen Juden organisierten. Sie begann nach weiteren Einzelheiten zu forschen, lieh sich in Bibliotheken Fachliteratur aus, las Archivdokumente und sprach mit Historikern.
Was anfangs nur private Neugier war, mündete schließlich in die Idee zum „Budapester Asphaltprojekt“. Im November 2011 veranstaltete Anna Lenard ihren ersten Geschichtsspaziergang auf dem Schwabenhügel. Er führte vom einstigen Hotel Majestic an der Karthausenstraße bis zu einer Villa am Eötvös-Weg, in der die kommunistische Geheimpolizei in den 1950er Jahren prominente Gefangene wie den ehemaligen kommunistischen Innenminister Laszlo Rajk verhörte und sie für Schauprozesse gefügig machte.
Inzwischen ist das Asphaltprojekt, kurz „Bupap“, unter kulturell und politisch Interessierten Hauptstädtern eine etablierte Institution. Vier feste Mitarbeiterinnen und viele Gast-Mitarbeiter hat Bupap. Es gibt neben Spaziergängen durch das jüdische Viertel und auf dem Schwabenhügel auch solche, die das ehemalige kommunistische Regierungsviertel im fünften Bezirk oder die Infrastruktur der kommunistischen Geheimpolizei zum Thema haben.
Zielgruppe sind die Ungarn selbst
Angeboten werden zuweilen zwar auch englischsprachige Spaziergänge. Doch die Zielgruppe sind in erster Linie die Ungarn selbst. Aus gutem Grund: Ungarn und insbesondere Budapest ist seit dem Machtantritt der rechtskonservativ-nationalistischen Regierungsmehrheit unter Ministerpräsident Viktor Orban zum Schauplatz eines großangelegten ideologischen Umbaus geworden. Im Zuge dessen konstruiert die Regierung auch die Vergangenheit an öffentlichen Orten neu: Straßen werden umbenannt, alte Statuen entfernt und neue aufgestellt. So ist Ungarn inzwischen regelrecht gepflastert mit Monumenten des antisemitischen Schriftstellers Albert Wass, eine Art neuer Nationaldichter Ungarns.
Anna Lenard möchte solche Veränderungen im Stadtbild auf ihren Spaziergängen ausdrücklich nicht bewerten, sie sagt nur: „Budapest ist eigentlich eine wunderbare Stadt, aber wegen der augenblicklichen politischen Verhältnisse wird sie leider weniger lebenswert, und leider wird auch die öffentliche Stimmung immer schlechter.“
Die Spaziergänger sind in einem Hinterhof angekommen: Hier stehen die Mauerreste des Budapester Ghettos, das die ungarischen Pfeilkreuzler 1944 für Juden errichten ließen. Anna Lenard erzählt über den Bau der Mauer, über Leben und Tod im Ghetto. Hier waren 1944/45 auf nur 0,3 Quadratkilometern zeitweise 70.000 Menschen unter unmenschlichsten Bedingungen eingepfercht. Lebensmittel mussten illegal eingeschmuggelt werden. Wer einmal innerhalb der Ghettomauern war, kam legal nur noch zum Abtransport in deutsche Todeslager heraus. Im Januar 1945, kurz vor der Befreiung durch die Rote Armee, entgingen die Ghetto-Bewohner nur knapp der Massakrierung durch deutsche Truppen.
„Leider wollen viele die Geschichte nicht zur Kenntnis nehmen.“
„Wir haben von dieser Vergangenheit in der Schule nur Bruchstücke erfahren“, sagt die Budapester Rentnerin Gabriella Szabo, die mit ihrer Tochter gekommen ist. „Deshalb sind diese Spaziergänge eine sehr gute Sache, wir erfahren sehr viel über unsere Geschichte. Leider wollen viele sie nicht zur Kenntnis nehmen.“
Anna Lenard versteht sich ausdrücklich nicht als Pädagogin oder Missionarin – aber sie möchte Impulse setzen für ihre Zuhörer. „Ungarns Situation in Osteuropa ist eine besondere. Unser Systemwechsel 1989 war sehr friedlich, vielleicht zu friedlich. Deshalb gab es auch keine Aufarbeitung der Geschichte, und deshalb fangen wir erst jetzt an, uns mit den Ereignissen der letzten Jahrzehnte zu beschäftigen.“